Abstraktion als Perspektive

Seit 2009 präsentiere ich mich auf dem Kunstmarkt mit abstrakten Fotografien. In einem früheren Essay zum Thema habe ich meine Arbeiten mit den Worten charakterisiert, sie seien zuerst als abstrakte Kunst und erst dann als Fotografie zu verstehen. Inzwischen erkenne ich in dieser Selbstverortung auch eine gewisse, nun ja, Unschärfe: Sie könnte nämlich so missverstanden werden, dass für meine Abstraktionen das Medium zweitrangig ist, wenn nicht gar beliebig. Das ist nicht der Fall. Was mich zur abstrakten Fotografie geführt hat, war die Fotografie, nicht die Abstraktion. Als ich meinen ersten Fotoapparat bekam, wollte ich Fotos machen, keine Kunst. Heute erschaffe ich abstrakte Kunst mit den Mitteln der Fotografie. Warum? In der Abstraktion erschließt sich mir das kreative Feld des Mediums, erlebe ich die Entwicklung der Fotografie von der abbildenden zur bildenden Kunst am radikalsten: im Überschreiten der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Materie, Geist und Seele, das auch den fotografischen Schlüsselbegriffen „Objektiv“, „Sucher“ und „Motiv“ neue Türen öffnet. Ist Fotografie Kunst? Schon 1859 warnte der französische Dichter Charles Baudelaire vor der gerade erst aufkommenden Lichtbildnerei als „Zuflucht aller gescheiterten Maler, der Unbegabten und der Faulen“ und wollte der neuen Technik höchstens zugestehen, „der Wissenschaften und der Künste Dienerin zu sein, und zwar eine sehr niedrige Dienerin, wie der Buchdruck und die Stenografie, die weder die Literatur geschaffen noch ersetzt haben“. Dabei galt sein eigentlicher Furor eher den Zeitgenossen, die in der möglichst exakten Nachbildung der Natur die einzig wahre Bestimmung jeder Kunst sehen wollten und in der vermeintlich objektiven Fotografie das passende Medium. Gegen diese kunstfeindliche Doktrin verteidigte der Dichter die Phantasie: „Geheimnisvolle Kraft, diese Königin aller Geisteskräfte! Die Phantasie ist die Herrscherin über das Wahre, und das Mögliche ist nur eine der vielen Provinzen des Wahren.“ Die Fixierung auf die technische Seite der Fotografie war auch rund 100 Jahre später noch nicht überwunden: „Auf jeden Fall kümmern sich die Menschen zu viel um die fotografische Technik und zu wenig um das Sehen“, konstatierte Henri Cartier-Bresson, einer der bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts und 1947 Mitbegründer der legendären Fotoagentur Magnum. Etliche seiner ikonografischen Fotos zählen heute zu unserem kollektiven visuellen Gedächtnis, kaum jemand würde seinen Bildern den Rang von Kunstwerken absprechen. Dennoch meinte er: „Die Fotografie ist ein Handwerk. Viele wollen daraus eine Kunst machen, aber wir sind einfach Handwerker, die ihre Arbeit gut machen müssen.“ Mag die Lichtbildnerei im 19. Jahrhundert begonnen haben als Versuch, die Welt abzubilden, so ist dieses Rennen verloren, seit die Fotografie die Welt überholt und hinter sich gelassen hat: Heute sind fotografierte Vögel bunter, die Landschaften unberührter, die Aktfotos nackter. Im 21. Jahrhundert erscheinen Fotos realistischer als die Realität – und verlieren sie dadurch mehr und mehr aus dem Blick. Fotografie als Kunst ist totes lebe die künsterlische Fotografie Die Fotografie hat unseren Blick auf die Welt verändert, doch parallel dazu verändert sich auch unser Blick auf die Fotografie. Mit der Digitalisierung der Breitenfotografie und der Omnipräsenz kamerabestückter Smartphones werden täglich Millionen Fotos aufgenommen von Menschen, die sich selbst nie als Fotografen bezeichnen würden. Die Frage, ob die Fotografie als Handwerk oder als Kunstform anzusehen sei, ist in der Demokratisierung des Mediums untergegangen. Kann eine Fotografie überhaupt Wirklichkeit transportieren, tut es eine Tageszeitung, ein Zeugenbericht, ein Protokoll? Lässt sich das Wirkliche der Welt abbilden? Womöglich nicht, aber es lässt sich hinterfragen, was wir für wirklich halten und warum – auch und gerade mit Hilfe von Bildern. Vielleicht kann der Fotograf den Wettlauf mit der Wirklichkeit nur verlieren. Aber im Auftrag der Kunst kann er mit seinem fotografischen Werkzeug schärfer, weiter, tiefgründiger sehen als mit bloßem Auge. Mich fasziniert die Fotografie als Medium, mit dem ich ein Stück Welt aufnehmen, mir aneignen und in ein Bild verwandeln kann, von dem ich zuvor nichts wusste. Meine abstrakte Fotografie erfindet nicht, sondern verwandelt; und wo Wandlung ihr Motiv ist, porträtiert sie, doch versucht nicht zu dokumentieren. Im Unwirklichen meiner Bilder findet sich ein Stück Wirklichkeit, mein ungegenständliches Foto basiert auf einer Begegnung mit dem Gegenstand. Fotografie macht sichtbar Meine Motive finde ich in Zwischenbereichen, Übergangszonen zwischen den Welten, dem Gezielten, Planvollen und dem Absichtslosen, Entgrenzten. In Büros und Werkstätten mögen Menschen die Elemente in Form und Richtung zwingen, Materialien, Strukturen und Energien prägen. So bauen wir Straßen und Eisenbahnen, Fabriken und Warenhäuser, Kirchen und Computer, stolz und stabil – für eine Zeitlang. Doch sobald die Materie aus der menschlichen Aufsicht entlassen ist, macht sie wieder ihr eigenes Ding. Transformationen verändern das Vertraute, Selbstverständliche, wo gerade noch Ordnung herrschte – fremde Farben, wilde Formen, neue Strukturen. Interferenzen von Kultur und Natur, widersprüchliche Nutzungen, die sich überlagern oder mischen wie Farbtemperaturen im Zwielicht, fügen sich zu ungeahnten und allemal ungeplanten Bildern. Meine Fotos zeigen häufig Details solcher Übergangszustände und -orte, sind manchmal Close-ups, aber keine Makroaufnahmen, und fast immer direkte 90-Grad-Annäherungen ohne erkennbare räumliche Tiefe. Das erleichtert es mir wie dem Betrachter, gegenständliche Sehgewohnheiten zu ignorieren und freie Assoziationen zu Farbe, Textur, Komposition zuzulassen. Häufig ist das iPhone mein spontanes Aufnahmegerät aus dem Handgelenk; wenn ich eine gründlichere Ausarbeitung mit mehr Kontrolle bei der Aufnahme will, arbeite ich gern mit meiner digitalen APS-C-Spiegelreflexkamera mit Festbrennweite und für lange Belichtungszeiten auch mit Stativ, jedoch fast ausschließlich mit vorhandenem Licht. Auge und Seeledie wichtigsten Werkzeuge des Fotografen Der Einsatz fotografischer Technik ist für mich ein Mittel zum Zweck, fasziniert mich aber ebenso wenig wie die digitale Nachbereitung der Bilddateien am Rechner. Abstraktion ist für mich kein technischer Vorgang, die Verfremdung gegenständlicher Fotos durch Aufnahme- oder Bearbeitungsverfahren wie gezielte Unschärfe, Filter oder digitale Effekte ist nicht mein Weg zum Bild. Ich kann all diese Mittel nutzen, und doch: Vor allen Bearbeitungsmöglichkeiten, sogar noch vor der Aufnahme ist für mich das Erkennen des Motivs die Grundlage der abstrakte Fotografie. Es ist ein bestimmter Blick auf die Welt, der hinter den Anschein schaut, die Abstraktion schon als Perspektive enthält. „Das eine Auge des Fotografen schaut weit geöffnet durch den Sucher, das andere, das geschlossene, blickt in die eigene Seele“, beschrieb Cartier-Bresson einst den Prozess der fotografischen Aufnahme. Dieser doppelt suchende Blick aufs Äußere der Welt und ins eigene Innere wiederholt sich beim Betrachter der abstrakten Fotografie, wenn es ihr gelingt, seine Seele anzusprechen. Jeder offene Blick ist dann eine neue, eigene Aufnahme. Abstraktion erweitert die Gültigkeit des fotografischen Bildes, indem sie es vom Auftrag der Reproduktion befreit. Sie erst öffnet das Bild für das Auge des Betrachters. Oder im besten Fall: für beide Augen. www.ulrichraschke.com www.facebook.com/URaFoto www.instagram.com/ulrichraschkefoto Um keine Artikel zu verpassen, kannst Du Dich hier mit mir verbinden: RSS-Feed,Facebook, Twitter Der Beitrag Abstraktion als Perspektive erschien zuerst auf 24notes.

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