Namaste! Wusstet Ihr, dass das lteste uns bekannte Buch in der indo-germanischen Sprache erstaunliche 5000 Jahre alt ist? Ich nicht! Es heit Rig Veda und ist kein skandinavischer Krimi, sondern ein indischer Gesundheitsratgeber. In Versform geht's darin um Krankheitsbilder und Heilmethoden. Und - Ihr ahnt es sicherlich schon - das heutige Konzept der Ayurveda-Heilkunde beruft sich auf das Rig Veda. // In Kurzform lsst sich das Ayurveda-Prinzip etwa so beschreiben: Im Krper des Menschen wirken drei bio-energetische Krfte, sogenannte Doshas: Vata, die Energie der Bewegung, Pitta, die Energie des Wrmeprozesse (z.B. Verdauung) und Kapha, die Energie der Struktur (Knochenbau, Gelenke ...). Im Idealfall wirken alle drei Doshas im ausgewogenen Gleichgewicht. Bei einem berschuss eines der Doshas tendiert der Mensch zu ganz bestimmten Krankheiten. Das ist wie beim Sprit im Motor: wenn das Gemisch stimmt, luft die Maschine rund, wenn nicht, stottert der Motor. Die Ayurveda-Therapie schafft einen Ausgleich der Doshas, sie behandelt die Ursache einer jeden Krankheit, nicht deren Symptome. Sie wechselt nicht den Vergaser aus oder fummelt an der Einspritzpumpe rum, sondern leert den Tank und fllt ihn mit dem richtigen Gemisch wieder auf. Ich hoffe, ich hab das jetzt in meinen Worten richtig wiedergegeben. Wir sind in Kerala, der Heimat der Ayurvedamedizin. Seit 10 Tagen kuren wir in einem lauschigen Resort direkt am Indischen Ozean. Wir sind in einem Bungalow oberhalb des Strandes untergebracht. Er liegt zauberhaft in einem tropischen Garten eingebettet, ist grozgig dimensioniert, aber ausgestattet wie eine Mnchsklause. Strom gibt's nur fr ein paar Stunden am Abend. Keine AC, nicht einmal ein Ventilator, der der schwl-warmen, stehenden Luft etwas entgegensetzen knnte. Und natrlich kein khles Bier in einer Minibar, das auch ein klein wenig gegen die Hitze ausrichten knnte. Zu Beginn der Therapie hat ein hagerer, lterer, Arzt mit runder Brille, vollem, grau-meliertem Haar und dem obligatorischen Schnauzbart unsere Konstitution ermittelt; also das Verhltnis unserer drei Doshas untereinander. Ich hab einen Pitta-berschuss. Um im Bild zu bleiben: der Schwefelgehalt ist zu hoch in meinem Sprit, weshalb es aus dem Auspuff qualmt. Nun kriegen wir tglich Massagen verabreicht, die mit Tantra etwa so viel zu tun haben wie das Quietschen eines durchdrehenden Keilriemens mit dem satten Klang eines V8. Wir werden weichklopft wie ein Tandori-Hhnchen (und riechen nach der Anwendung auch auf beunruhigende Art und Weise danach). Statt eines khlen Biers zum Sonnenuntergang (s.o.) gibt's dickflssige, bittere Tinkturen, ansonsten Tees, Sppchen und Nasensplungen, die dir den Rachenraum vertzen. Und es funktioniert auf wundersame Weise. Kein Stottern im untersten Drehzahlbereich, auf den sich unser Motor konstant eingestellt hat. Wir weichen ganzheitlich auf. Um die weichen Muskeln kmmert sich der Masseur, um einen weichen Geist der Yogalehrer und um ein weiches Hirn die allgegenwrtigen Rucherstbchen. Magisches Indien! Indien? Ach ja, wir sind immer noch in Indien. Doch auer, dass nicht nur der Doktor sondern auch alle Masseure Schnauzbrte tragen (und alle Masseurinnen Saris), kriegen wir hier davon nicht viel mit. Das Land ist weit genug entfernt, um Gefahr zu laufen, es einmal mehr zu verklren. Ich bin eigentlich fr solcherlei Einflsse sehr empfnglich. Heute aber nicht. Vielleicht pendelt sich mein Pitta gerade ein, jedenfalls habe ich mir vorgenommen, heute Tacheles zu schreiben: Wir sind durch Lnder gereist, die hatten ein Imageproblem. Kolumbien z.B.: ein zauberhaftes Land mit freundlichen, heiteren Menschen, funktionierender Infrastruktur und einem vorbildlichen Bildungssystem. Doch welche Schlagwrter fallen uns ein, wenn wir an Kolumbien denken? Drogen, Entfhrung, Guerilla, Anarchie. Das stolze Indien hat kein Imageproblem, es hat ein Realittsproblem. Wir lassen uns einlullen von Yoga und vom warmen l der Ayurvedamedizin, von Bollywood, der Mutter Ganges, dem mantrasingenden Sadhu, von Krishna, Kamasutra und vom schwingungsvollen Om der Gurus. Selbst unser Bild von Armut, das wir mit Indien assoziieren, wird mehr und mehr verdrngt vom Bild eines aufstrebenden Schwellenlandes, das sich anschickt, eine der fhrenden Wirtschaftsmchte zu werden. In unserer Auenwahrnehmung pflegen wir ein Idealbild, das verklrt. Was habe ich nicht gefltet in meiner letzten Mail von unterwegs ber "spirituellen Reichtum." Quatsch mit Soe! Die Wirklichkeit holt uns ein, sobald wir die palmenumsumte Strandbar, das klimatisierte Hotelzimmer, das rucherstbchenvernebelte Heile-Welt-Resort oder das touristengeschwngerte Goa hinter uns lassen. Ziehen wir doch mal kurz den rosaroten Sari ber Indien beiseite (und wenn Ihr grad beim Essen seid, dann lest spter weiter): Indien ist heute ein Land, das alle Mittel hat, seine Menschen zu ernhren. Es ist so wohlhabend, dass es Entwicklungshilfe von den meisten Lndern ablehnt. Das Land ist der weltgrte Milchproduzent und nach China der zweitgrte Reisproduzent. Doch vom Boom der vergangenen Jahre haben nur wenige profitiert. Selbst die Indische Regierung gesteht ein, dass rund 43% der Kinder unter 5 Jahren unterernhrt sind. Durchschnittlich ber zwei Millionen Kinder pro Jahr starben laut UNICEF in den vergangen zwei Jahrzehnten, rund 90% davon direkt oder indirekt an den Folgen von Unterernhrung. Das sind mindestens 40 Millionen seit Mitte der Neunziger Jahre. Die zurckliegenden Boomjahre haben die Situation keineswegs verbessert, im Gegenteil: 1973 aen die Menschen im lndlichen Indien (bei meist schwerer krperlicher Arbeit) tglich nur 2300 Kalorien, ermittelte das Ministerium fr Statistik. 2010, fast 40 Jahre spter, lag der Durchschnitt nur noch bei 2020 Kalorien. Alle Opfer des Elends lieen sich laut Vereinte Nationen mit den Mitteln des Landes retten. Doch Korruption innerhalb von Politik und Wirtschaft sind verantwortlich fr diesen Menschenrechtsskandal. Die Weltbank schtzte 2011, dass 58% der direkten Lebensmittelhilfen die Hungernden Indiens gar nicht erreichen, weil sie verrotten oder unter der Hand von Beamten verkauft werden. Laut unserem Reisefhrer erreichen gerade mal 10 % aller staatlichen Frdermittel ihr geplantes Ziel. Der groe Rest verschwindet in der Brokratie und den Taschen von Staatsdienern und deren Mittelsmnnern. Korruption wuchert auf allen Ebenen der Indischen Gesellschaft. "Sie ist nicht Teil des Systems, sondern das System selbst, schreibt die FAZ. Und weiter heit es da, dass die rmsten des Landes 40% ihres klglichen Einkommens fr Bestechung ausgben. Im Gegenzug lgen geschtzte 1,5 Trillionen illegale Euro - Geld, das Indern gehrt - in Steueroasen auerhalb des Landes. 1,5 Trillionen! Ich wei gar nicht, wie viele Nullen so eine Zahl hat. Ursache fr die sozialen Ungleichheiten in Indien ist nicht zuletzt das Kastensystem, eine wirklich obszne Form der Diskriminierung, neben der die Zustnde im Sdafrika der Apartheid schon beinahe harmlos daherkommen. Auf dem Papier abgeschafft durchdringt es die indische Gesellschaft vor allem auerhalb der groen Stdte immer noch bis in ihre feinsten Poren. Vier Hauptkasten, sogenannte Varnas, gibt es und ber 3000 Unterkasten. Die Unberhrbaren am unteren Ende der sozialen Leiter gelten als derart unrein, dass sie gar keiner Kaste angehren. Laut Zahlen von 2014 leben 180 Millionen Unberhrbare in Indien. Sie sind die groen Verlierer, die Ausgestoenen eines zutiefst verbrecherischen Gesellschaftssystems. "Sie sind tglich mit Ungerechtigkeiten konfrontiert, knnen ermordet, vergewaltigt und auf bsartige Weise gedemtigt werden," schreibt "Reise-Know-How" in seiner 2013 erschienenen Rajasthan-Ausgabe. "Was ihnen vorgeworfen wird, ist oft haarstrubend: etwa mit Schuhen durch den Dorfteil der hheren Kaste zu gehen, Fahrrad zu fahren oder eine Kleidung zu tragen, die als anmaend betrachtet wird." Und die indische Gesellschaft hat sich noch ein Opfer ausgesucht: das weibliche Geschlecht. Ein indisches Sprichwort besagt: "Ein Mdchen grozuziehen ist in etwa so, als wrde man die Pflanzen des Nachbar gieen." Tatschlich stellen unter rein konomischen Bedingungen Mdchen eine enorme Belastung dar, denn die zu zahlenden, absurd hohen Mitgiften an deren zuknftige Ehemnner verschulden nicht selten die Brauteltern fr ihr Leben lang. Wir waren auf einer Hochzeit eingeladen, und wir haben eine Geschenkebergabe beobachtet, die uns die Kinnladen runterklappen lieen. Ein kompletter Hausstand wechselte da die Besitzer, inclusive Waschmaschine, Flachbildfernseher und Kleinwagen. Wir fhrten Gesprche mit Vtern, die verzweifelt waren und existenzielle ngste durchlebten, weil sie drei Tchter haben, aber keinen Sohn. Die Tochter wird traditionell an die Familie des Brutigams bergeben, sie wird sich nie mehr wieder um ihre eigenen Eltern kmmern, deren Altersvorsorge wie eh und je die eigenen Kinder darstellen. Solche Aussichten haben fatale Folgen: Die Amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Siwan Anderson und Debraj Ray kalkulieren anhand von Bevlkerungszahlen, Geburts- und Sterberaten, dass in Indien heute ber die Jahre zusammengefasst 35 Millionen Frauen fehlen. 12% der jhrlich fehlenden Inderinnen gehen laut aktuellen Statistiken zufolge auf das Konto von selektiven Abtreibungen weiblicher Ften. 25% sterben in ihrer Kindheit. Tausende werden nach der Geburt ermordet, oder die Eltern lassen Sie verhungern. Und selbst, wenn die Mdchen die Kindheit hinter sich gelassen haben, geht das Morden weiter. 18% der fehlenden Inderinnen sterben im gebrfhigen Alter, meistens weil sie husliche Gewalt erleiden mssen bis hin zur Brautverbrennung, die gerne praktiziert wird, wenn z.B. dem Ehemann irgendwann die Mitgift nicht mehr angemessen erscheint. Nach Schtzungen gibt es allein davon ber 100.000 pro Jahr. 45% sterben als ltere Frauen. Zwar ist offiziell die Witwenverbrennung heute verboten, aber das ist die Brautverbrennung auch. Und dessen ungeachtet gelten Witwen immer noch als gesellschaftlich nutzlos. Oft werden sie von ihren Familien verstoen und mssen als Einsiedlerinnen dahinvegetieren, bis ein gndiger Tod sie erlst. Und auch hier gilt: Wer die Hoffnung hegt, dass mit wachsendem Wohlstand und Bildung sich derlei Verbrechen von alleine erledigen, sieht sich im Irrtum. Laut Shanta Sinha, Vorsitzende der nationalen Kommission fr Kinderrechte in Indien, breitet sich seit der Jahrtausendwende der Frauenschwund im reichen Sden, den groen Stdten und sogar hier im liberalen Kerala aus. Und ausgerechnet das moderne Delhi ist eine Hochburg des Geschlechtermordes. Hier wurden 2013 nur noch 860 Mdchen pro 1000 Jungen geboren. "Wir sehen hier eine Brutalisierung der individuellen Einstellung zum menschlichen Leben, wie sie erst die Modernisierung hervorbringen konnte," glaubt Sinha. Der Mdchenmord wre demnach nicht nur Folge eines patriarchalischen Kulturerbes, sondern ebenso Folge des Sittenverfalls in einer modernen Konsumgesellschaft. Ich wei nicht, wie es Euch geht. Mir bleibt bei solchen Zahlen das "Om" im Hals stecken. Wir echauffieren uns zu Recht ber Diskriminierungen in der islamischen Welt, ber das mangelnde Demokratieverstndis in Russland oder ber die Parteidiktatur in China. Indien aber geniet als grte Demokratie der Welt bei uns ein beinahe mystifiziertes Ansehen. Auf unserer Reise durch diese Land haben wir herzzerreiend schne Momente erlebt, sind allenthalben liebevollen, gastfreundlichen Menschen begegnet, deren Lebensfreude, Hilfsbereitschaft und Offenheit uns verzaubert hat. Wir haben dieses Land lieben gelernt, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Doch keine Schnheit in Indien, der nicht eine sprachlos machende Scheulichkeit im Nacken liegt. Man kann es nicht anders formulieren: Indien ist ein Unrechtsstaat, der jedes Jahr Millionen seiner Brger auf dem Gewissen hat. Hier findet ein Vlkermord statt, den der Staat und seine Eliten nicht nur tolerieren sondern mit zu verantworten haben. Hier pflegt ein frauenverachtendes Patriarchat ein verbrecherisches kulturelles Erbe, welches die Auenwelt weitgehend ignoriert. Shanti, shanti, wie der Inder sagt, ruhig Blut! Sonst schwappt mein Pitta noch ber, und dann suft der Motor womglich ab. Mein freundlicher Doktor hier, mit dem ich ausgiebige Gesprche ber Gesundheit und Spiritualitt gefhrt habe, wrde zu Recht streng ber seine runde Brille schauen und den Zeigefinger heben. Mit der Wahrheit ist das so eine Sache: manchmal will man sie gar nicht hren, weil sie so unwahrscheinlich daherkommt. Und weil wir uns unsere Idealbilder, die wir so farbenfroh ausmalen, nur ungern von ihr wieder wegwischen lassen. Tolstoi schrieb: "Bisweilen wird die Wahrheit als ein Ideal hingestellt. Das ist falsch: Wahrheit ist Fehlen von Lge." In diesem Sinne und auf bald, Michael & Sabine P.S.: Alle Zahlen und Infos stammen aus dem Internet, aus den Archiven diverser Tageszeitungen und aus einigen Bchern, die ich auf der Reise dabei hatte. Vieles davon kann man so oder hnlich fast beilufig in jedem Reisefhrer nachlesen, als wrs das normalste auf der Welt. Jedem Interessierten mchte ich vor allem ein Buch nahelegen: "Indiens verdrngte Wahrheit" von den Autoren Georg Blume (Auslandskorrespondent, schreibt u.a fr DIE ZEIT und die taz) und Christoph Hein (Wirtschaftskorrespondent der FAZ), erschienen 2014 beim Verlag Edition Krberstiftung. Zurck zur bersicht
Straßenkinder in Indien Sana Ahmed, Sozialarbeiterin aus Neu-Dehli Der Beitrag Straßenkinder in Indien erschien zuerst auf 2 Euro-Aktion.
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