Der Mythos der heilen Familie – und warum die Realität eine andere ist

Noch immer glauben zahlreiche Menschen, das Ideal der heilen Familie verwirklichen zu müssen, um glücklich zu werden – und nicht wenige finden sich irgendwann an einem Punkt wieder, an dem aus dem einstigen Traum ein stiller, quälender Albtraum geworden ist. Was ist dran an dem Mythos der heilen Familie? Und warum scheitern wir so häufig an diesem Ziel? Die Wahrheit ist: Es gibt keine heilen Familien. Denn sie werden gewissermaßen aus Wunden heraus geboren. Wenn wir uns in unseren jungen Jahren auf die Suche nach unserem Lebenspartner begeben, geschieht dies in der Regel unbewusst und wir wähnen uns dabei unvollkommen. Wir glauben, erst durch den Partner vollkommen und ganz zu werden; nicht umsonst spricht man im Volksmund von der besseren Hälfte oder davon, ohne den anderen unvollständig zu sein. Das ist jener fatale Irrtum, in dem wir groß geworden sind und der nicht hinterfragt wurde – der Mythos, dass wir ohne einen anderen Menschen unvollkommen sind. Dieser Mythos beruht wie die meisten Mythen auf realen Begebenheiten, die inzwischen allerdings überholt sind. In früheren Jahrhunderten konnten die wenigsten Frauen ohne einen Mann, der als Ernährer, Beschützer und Familienvater an ihrer Seite stand, überleben. Gleichzeitig brauchte der Mann die Frau, um für Nachkommen sorgen zu können, die damals ebenfalls für Haus und Hof als eine Art Lebensversicherung unverzichtbar waren. Als diese wirtschaftlichen Notwendigkeiten nach und nach wegfielen, begannen wir damit, die Familie zu romantisieren; das Ideal der „heilen Familie“ entstand, das noch heute fast alle jungen Menschen anstreben. Sie wollen einen Partner finden und eine Familie gründen, verbunden mit dem Wunsch, dass dann das Leben „rund“ und heil wird, also vollkommen. Aber Hand aufs Herz: Welche Familie ist wirklich heil? Und kann eine Familie überhaupt heil sein, wenn sie von zwei verwundeten Menschen gegründet wird, die außerdem noch das unerlöste Leid ihrer Ahnenkette im Gepäck tragen? In meinem autobiografischen Roman Gelebte Zeit habe ich die Schatten meiner Herkunftsfamilie liebevoll in die Heilung geschrieben – denn auch bei uns gab es manchmal mehr Schein als Sein. Nach außen hin mag vieles perfekt gewirkt haben und die Ehe meiner Eltern war es auch. Dennoch gab es auch bei mir blutende Wunden, die sich lange nicht geschlossen haben. Beim Schreiben war es mir wichtig, aus einer Haltung der Vergebung heraus zu erzählen, denn ich weiß: Auf höherer Ebene hat sich meine Seele genau diese Familie herausgesucht, um ihre Erfahrungen machen zu können. Jede Familie birgt Chancen zur Heilung alter Ahnen-Wunden Zu glauben, wir seien nur mit einem anderen Menschen vollständig und vollkommen, ist eine Wunde, die uns zutiefst verletzbar und angreifbar macht. Doch wie der persische Mystiker Rumi schon sagte: „Wound is where light enters“. Wunden bergen stets ein immenses Potenzial an persönlicher Weiterentwicklung. Jede Familie, wirkt sie nach außen auch noch so heil und perfekt, birgt ihre eigenen Wunden und damit auch ihre Entwicklungschancen für alle Beteiligten. Meist kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem das Erträumte da ist: die gemeinsamen Kinder, das Haus oder die Wohnung, die Familienurlaube – und die Idylle bekommt die ersten Risse, unweigerlich. Die materielle Ebene ist vollendet und damit der Raum erschaffen, um nach innen schauen zu können. Was wir dort sehen, kann verstörend sein. Es kann Schmerz und Leere auslösen, uns sogar in eine Lebenskrise stürzen. Alte Schatten kommen an die Oberfläche und das, was uns vorher der einzige Schlüssel zum Glück erschien, fühlt sich belastend, trüb und manchmal sogar quälend an. Viele Menschen entscheiden an diesem Punkt, die Fassade der intakten Familie dennoch aufrecht zu erhalten, auch wenn sie sich in ihren Mauern längst eingesperrt fühlen und kaum noch tief atmen können. Es gilt um jeden Preis, das Bild der heilen Familie zu konservieren; allein der Kinder zuliebe. Und es funktioniert ja auch … irgendwie … selbst wenn das Herz leise weint. Mythos der heilen Familie: Botschaft für die Kinder? Was wir damit jedoch unseren Nachkommen vermitteln, ist erneut der Mythos der Unvollkommenheit. Wir leben ihnen vor, dass wir nichts Ganzes, nichts Heiles sind, wenn wir uns nicht in einer äußerlich heilen Familie befinden und diese mit allen Mitteln verteidigen. Dabei wäre Ehrlichkeit die einzige Chance zum echten Glück, das stets aus dem Wissen um die eigene Vollkommenheit erwächst. Die Wunden sind die Basis und der Mut, sie sich anzuschauen, das Werkzeug. An diesem Punkt könnten wir erkennen, dass der Partner ebenfalls seine Wunden davon getragen hat und sich nur deshalb so verhält, wie er es tut, und wir können sehen, dass er zu unserem neuen, wahren Ich möglicherweise nicht mehr passt. Es kann aber auch sein, dass beide Partner einander plötzlich mit neuen, wachen Augen betrachten, dabei erkennen, dass sie die ganze Zeit mit einer Idee, einem Wunsch zusammen waren und neugierig auf das wahre Seelenwesen hinter diesem „Deal“ werden. Wo Menschen zusammenfinden, begegnet sich immer auch alter Schmerz Wir könnten einander von unseren Wunden erzählen, offen und aufrichtig, und uns entspannt dazu bekennen, dass es heile Familien nicht gibt. Wir können ebenso erkennen, dass die Wunden nicht bedeuten, dass da keine Liebe war. Im Gegenteil auf Seelenebene haben wir eine überaus liebevolle Verabredung getroffen, uns eines Tages unsere Wunden zu spiegeln, damit sie endlich heilen können. In meinem Onlinekurs Seelenberührt führe ich dich behutsam an deine eigene Sprache der Liebe heran und räume mit alten, hinderlichen Missverständnissen über die romantische Liebe auf. Wo auch immer Menschen zusammen finden – ob in Beziehungen, Ehen, Familien, Gemeinschaften, Kommunen – , treffen auch Wunden zusammen, die irgendwann gesehen werden wollen. Es wird zu Konflikten kommen, zu Auseinandersetzungen, hitzigen Streitereien und kaltem Schweigen, weil das unvermeidlich ist, wenn wir uns in einem menschlichen Körper samt seinem emotionalen Geschehen befinden. Je bewusster wir damit umgehen, desto schmaler ist die Zerstörungsschneise und desto schneller sprießt frisches Grün aus der aufgewühlten Erde. Traum von der heilen Familie: In der zweiten Lebenshälfte Neustart möglich? Und ja, manchmal tut dieser Weg erst einmal scheußlich weh. Es gibt Momente, in denen man seine Großmutter verkaufen würde, um das Ideal der heilen Familie zu bewahren und endlich dort seine Erfüllung finden zu können. Doch letztlich wird sie uns immer und immer wieder zeigen, dass unser wahres Glück nur in uns selbst gefunden werden kann. So kann in der zweiten Lebenshälfte ein Weg beginnen, der zu Beziehungen führt, die aus dem Wissen um die Vollkommenheit wachsen, und auf dem wir Partnerschaft und Familie auf eine höhere, lichtvollere Ebene führen können. Wir brauchen einander nicht mehr und wir sind frei von der Idee der perfekten Familie und genau deshalb erleben wir im Miteinander eine nie dagewesene Qualität der Hingabe und Liebe. Denn wir schöpfen aus der Fülle heraus und haben den Zustand des Mangels hinter uns gelassen. Wenn du tiefer in dieses Thema eintauchen und deine Beziehungen auf eine neue Ebene erheben möchtest, empfehle ich dir meinen Partnerschaftsratgeber „Wenn Lichtkrieger lieben“ . Der Beitrag Der Mythos der heilen Familie – und warum die Realität eine andere ist erschien zuerst auf Bettina Kyrala Belitz.

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