Mhsam beugte sich Martha nach unten und zog und zerrte, bis der Knuel sich lste. Der Strumpf hatte sich beim Gehen unter der Fusohle zusammengeschoben. Sie sollte die Strmpfe irgendwie befestigen. Sie waren am Rand ausgeleiert und seit sie so dnn geworden war, hielten sie nicht mehr von alleine. Sie versuchte, sich auf ihr Buch zu konzentrieren doch heute fiel es ihr schwer. Was sollte sie sich mit diesem Saulus befassen, der sich dank gnstiger Umstnde ins Gegenteil verkehrte. Ja, wenn die Verhltnisse gnstig waren, fiel es leicht, sich zu ndern, dachte sie bitter. Oft und oft hatte sie bei dieser Geschichte an ihr eigenes Leben denken mssen. Sie kannte die beschriebenen wunderbaren Begebenheiten. Wort fr Wort htte sie sie weitererzhlen knnen. Auch die fromme Auslegung, die Gedanken, die ihr das Urteil erleichtern sollten, liefen ihr wie Leuchtstreifen durch den Kopf. Fr sich sollte sie Lehren daraus ziehen, fr ihr Dasein und ihre Lebensfhrung. Dazu war es verfasst, dieses fromme Schicksal. Hangabwrts verschwamm das Maisfeld ihr vor den Augen. Ihre Gedanken verloren sich im dunklen Grn und wirbelten gleichzeitig wie federleichte Sturmbltter im Kopf umher. Schn, dass sie sich anlehnen konnte. Sie wre vor soviel Wirbel und Bitterkeit vielleicht vom Schemel gefallen. Den Stuhl hatte er ihr abgesgt. Es war ein alter Stuhl, so alt wie sie selbst. Mindestens. Ihre Mutter hatte schon auf ihm gesessen und ihn ihr berlassen, damals, bei ihrer Heirat. An die Mutter konnte sie sich nur vage erinnern. Das alte Gefhl des Verlassenseins wollte in ihr aufsteigen, wurde aber von einem freundlichen Bild verdrngt, das berraschend vor ihren Augen auftauchte. Sie sah die Mutter, wie sie in ihrer blaukarierten Kittelschrze neben ihr stand und ihr breite Haarschleifen in die dnnen Zpfe flocht. Das Rot der Schleifen leuchtete vor ihr auf, wie blhender Klatschmohn. Wie dnn und klein sie damals gewesen war! Vorsichtig hatte sie sich ein wenig angelehnt an die Mutter. Ganz vorsichtig, denn sie mochte es nicht, wenn man ihr zu nahekam. Sie durch ihre Schrze zu spren und zu riechen wie nur sie roch, das war schn. Langsam hob sie den Kopf. Sie war wohl kurze Zeit eingenickt. Ein schwacher, kaum wahrnehmbarer Wind hatte sich erhoben, strich ihr ber den Nacken und raschelte leise ber ihr in der blhenden Linde. Wie angenehm so ein kleiner Wind doch sein konnte. Martha griff wieder nach dem Buch auf ihrem Scho. Den Saulus erledigte sie, indem sie entschlossen das Blatt wendete und die nchsten Seiten in der Mitte glattstrich. Sie wusste, was jetzt kam. Sie brauchte die berschrift nicht zu lesen, es war die Geschichte vom verlorenen Sohn. Sie hatte den ihrigen nicht verloren, sonst htte sie ihn wiederfinden knnen. Vielleicht htte das ja einiges gendert. Sie hasste ihn, diesen Sohn, trotz des Stuhles. Sie wollte nicht an ihn denken, musste sich jedoch gerade in den letzten Wochen des fteren mit ihm befassen. Er kmmerte sich um sie. Sie wollte das nicht. Es verwirrte sie. Ausgerechnet er! Sollte er seine Zeit als Rentner anders einteilen und sie in Ruhe lassen. Unruhig strich sie mit den flachen Hnden ber die Seiten. Der verlorene Sohn! Sie schloss die Augen, konnte aber sein Bild nicht vertreiben. Viele Ereignisse legten sich bereinander, lsten sich ab, wurden deutlicher und blasser, tauchten auf und verschwanden. Er hatte sie immer an ihren verstorbenen Mann erinnert, nicht nur im Aussehen, sondern vor allem in seiner Art, die Dinge die er im Kopf hatte, durchzusetzen. Ein folgsamer Schler war er dem Mann gewesen, wenn es um Hrte und Grausamkeit ging. Sie schttelte den Kopf. Nichts fand sie in ihrem Erinnern, was zu ihrer Freude gewesen wre. Freundlichkeit und Wrme oder gar Mitleiden. Schon seine Kindheit war eine einzige Qual fr sie gewesen. Nicht daran denken, befahl sie sich. Die Zeit war dahingeflossen und hatte auch das mit sich genommen. Bitter war ihr seine Gegenwart, die er sie spren lie. Seit kurzem war auch er an den Punkt gekommen, war ungeliebter Rentner, unntzer Esser auf seinem eigenen Hof. Ihr Mann war schon unter der Erde gewesen, damals. Sie dachte mit Genugtuung an die vielen Nachbarn, die zur Beerdigung gekommen waren, nicht wegen ihm, sondern ihr zuliebe. Bald danach hatte sie den Hof bergeben, das heit, eigentlich hatte der Sohn ihn sich genommen. Sein Entweder-oder machte ihr noch heute das Herz eng. Sie war geblieben, hatte noch jahrelang geschuftet und erst als es nicht mehr anders ging, ganz aufgegeben. Fnfundzwanzig Jahren versorgte sie sich nun alleine. Das sollte ihr erst einmal jemand nachmachen. Zufrieden nahm sie die Hhner wahr, die geschftig unter der Linde nach Futter scharrten. Pltzlich fhlte sie sich mde und unfhig sich zu bewegen. Die Augen fielen ihr zu. Sie sollte sich nicht so viele Gedanken machen. Sich nicht an frher erinnern. An die Kleine sollte sie denken, an die Urenkelin. Merkwrdig, wenn pltzlich wieder so etwas ganz Kleines, Neues ber den Hof lief. Sie konnte nicht viel mit ihr anfangen, aber zusehen, wie sie voller Freude hinter allem herlief, das Beine hatte. Das gefiel ihr. Sie hrte auf ihr Plappern und Rufen und htte gerne mehr getan fr sie. Heute war Sonntag und die jungen Eltern waren mit ihr zum Baden gefahren. Hatte sie jemals den Sonntag am See verbracht? Ganz frh, noch vor der Heirat, fiel ihr ein, war auch sie mit den Schwestern zum Baden gegangen. Zu Fu hatten sie sich einige Male auf den Weg gemacht. Nackt waren sie ins Wasser gestiegen, voller Angst vor der Tiefe des Sees, vor Wasserpflanzen und groen Fischen. Der Gedanke, dass jemand sie dabei beobachten knnte, hatte das Vergngen geschmlert und sie waren am Ufer, kaum abgetrocknet, hastig wieder in ihre Kleider geschlpft. Die Erinnerung machte sie lcheln. Heute war wieder so ein Badetag. Langsam ffnete sie die Augen und blickte hinaus in die Stille. Die Mittagshitze lie sogar die Vgel verstummen. Die Khe lagen wie gesprenkelte Steine auf der unteren Weide. Gelegentlich klopfte einer ihrer Hasen in seinem Stall, hinten an der Hauswand. Am Mittag hatte ihr die Schwiegertochter wie jeden Sonntag das Essen gebracht. Das gehrte zum Austrag, das stand ihr zu und die eigenen Hasen und Hhner auch. Sie war nicht schlecht zu ihr, diese, jetzt auch in die Jahre gekommene Frau. Gemocht hatte sie ihre Schwiegermutter wohl nie besonders, war sie doch die Mutter ihres Mannes. Musste ja auch mit ihm leben. Tag und Nacht zusammen, mit diesem unduldsamen Grobian. Schon der Gedanke an ihn war Martha zuwider. Ob der Jungbauer besser war? Sie mochte ihn. Er kam hin und wieder zu ihr, setzte sich unter den Baum, schwieg oder wechselte ein paar Worte mit ihr. Sie hatte ihn aufwachsen sehen und ihn oft und oft in Schutz genommen vor den Attacken des Vaters. An ihn musste sie sich halten mit ihren Gedanken. Nicht die Vergangenheit heraufziehen lassen und graben nach Dingen, die sie nie erfahren hatte. Es war so gewesen wie es war. Sie lebte heute und morgen und nicht gestern und vorgestern. Als der Sohn nach Martha sah, um sie ins Haus zu holen, war die Hitze des Tages schon einer angenehmen Wrme gewichen. Die Hhner hatten sich hangabwrts in den groen Hof verzogen. Die Blten der Linde dufteten verschwenderisch. In den dichten sten des Baumes summten noch einzelne Bienen und die Hasen rieben ihre Nasen am Gitter der Stlle nach Futter. Als er Martha genauer betrachtete, bemerkte er um ihren Mund einen entschlossenen Zug. Milchig verschleiert waren die Augen in die Ferne gerichtet, als hielten sie sich dort an einem fernen Punkte fest, als strmte ihr Blau hinber ins dunkle Blau des Abendhimmels. Die Beine lagen ausgestreckt, wie um es sich gemtlich zu machen. Der Rcken drckte sich fest an die Lehne des niedrigen Stuhls. Der abgesgte Stuhl, dachte er, wenigstens hat sie ihn benutzt. Er beugte sich hinunter zu ihr und zog ihr die Strmpfe hoch ber die dnnen Waden. So alt wie du, will ich auch werden Mutter, murmelte er. Zum Buch...
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