Editing als Rave

Musik begleitet mich mein gesamtes Fotografenleben und auch schon davor, als ich noch Volontäre bei der Zeitschrift KONKRET war. Früh morgens, wenn noch keiner in der Redaktion war, konnte ich in meinem kleinen Zimmer die Musik aufdrehen und der Rhythmus der Musik (oft Miles Davis zu dieser Zeit) ließ sich in den Einklang mit dem sonoren Klack, Klack der IBM Kugelkopfmaschine bringen. Erst war es nur Musik und Schreiben, dann wurde es e i n Flow: Musikschreiben oder Schreibmusik.  Auch jetzt beim Schreiben dieser Zeilen höre ich Musik. Noch wichtiger ist für mich Musik geworden seit ich Fotografiere. Anfangs noch als Verbindung zur Außenwelt eingeschlossen über Stunden oder Tage in der Dunkelkammer. Später hörte ich auch während des Fotografierens Musik. Zum ersten Mal experimentierte ich mit dieser akustischen Entkopplung von der Außenwelt als 2005 der Papst den Weltjugendtag in Köln besuchte. Überall in Köln ertönten christliche Lieder – Tag und Nacht – es gab kaum ein Entkommen. Rein visuell wirkte die ganze Veranstaltung mit ½ Million Besucher*innen wie ein riesiges Festival. Ich setzte mir die Kopfhörer auf und spielte mir meine eigene Tonspur zu dem Massenspektakel ein. Aus dem Herum- und Mitlaufen, dem Beobachten und dem Fotografieren wurde eine eigene Performance: während die Nonnen vor dem Kölner Dom sangen, setzte in meinem Kopf(hörer) die Bassline eines Technostückes ein. Passend zu meiner Arbeit erschien schon 2003 ein Song von „Pink“: If God Is A DJ – ein passenderen Titel konnte ich für meine Arbeit nicht finden. Es war für mich ein einschneidendes Erlebnis, denn es funktionierte. Mit Hilfe der elektronischen Musik entkam ich der Inszenierung dieses Massenspektakels. Die Fotografien von diesem Ereignis wurden zu meinen Bildern – befreit von der Plicht der Berichterstattung, geschützt vor der Vereinnahmung der dominierenden Stimmung eines katholischen Happenings. Mittlerweile denke ich, wenn nicht Fotograf, dann wäre ich wohl Techno-DJ geworden. Die Analogien zur Musik und zur elektronischen Musik im speziellen sind für meine Fotografie und meine Arbeit mit Fotografien ein wichtiger Bestandteil geworden. Zum Beispiel beim Editing: viel Platz, zwei, drei große Tische, gute Musik, die mich in Stimmungen versetzt, die nicht zu sehr mit dem Thema der Bilder im Einklang sind, aber trotzdem einen Flow erzeugen. Das kann klassische Musik sein oder ein gutes zweistündiges DJ-Set und manchmal auch eine gute Schallplatte irgendeiner Band. Jazz ist sehr angenehm, um Bilder auszuwählen bzw. wegzulassen, da es sich in der Regel nicht um einfach gestrickte, sondern um komplex improvisierte oder komponierte Musikstücke handelt. Manchmal ist das Editieren dann schon fast wie Plattenauflegen. Liegt erst mal das Grundgerüst der Bilderstrecke auf den Tischen, dann horcht man – im übertragenen Sinn – welches Motiv könnte für dieses ohne jenes Bild einen guten und sinnigen Anschluss bilden. Man springt zwischen Bildstrecke und den verbleibenden Bildern hin und her, erkennt ein Muster, hört quasi die Bassline, über der man seine Bildstrecke tanzen lässt. Editing als Rave. Das Editing von Bildstrecken ist  letztlich nichts anderes als Komponieren und unterliegt gewissen Gesetzmäßigkeiten, die manchmal auch mathematische Züge annehmen. Nimmt man ein Beispiel aus der klassischen Musikwelt wie die „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach wird schnell klar,  dass neben Können auch Methodik, Mathematik, Experimentierfreude und Intuition eine große Rolle spielen. Begriffe wie Kontrapunkt, Dissonanzen, Wiederholungen, Spiegelungen  etc. kommen zwar ursprünglich aus der Harmonielehre der klassischen Musik, können aber nahtlos in den Diskurs über Fotografie und Bildstrecken übernommen werden. Schon der Maler Wassily Kandinsky sprach vor mehr als hundert Jahren vom „inneren Klang“ der Farben und Formen.* Interessanter Weise stieß ich auf einen kleinen Artikel in dem mittels kleiner Grafiken der optimale Verlauf verschiedener DJ-Sets veranschaulicht wird, der problemlos auch für die Komposition eines Fotobuches die Grundlage bilden könnte. Zum Beispiel die „Peak-Time-Variante 2“: „Diese Variante ist vor allem für längere Sets geeignet. Sie beinhaltet zwei größere Höhepunkte, die sich jeweils bis zu einer halben Stunde hinziehen können. Man tastet sich lange an die Höhepunkte heran, kostet sie dann aber auch ordentlich aus.“ Oder eben die „Peak-Time-Variante 3“: „Variante drei stellt dein Set graphisch als eine Art Zickzack-Linie dar. Höhepunkte und eher ruhige Phasen folgen schnell aufeinander. Im Gegensatz zur ersten Variante braucht der Zuhörer hier also nicht lange auf die nächste energiegeladene Phase zu warten“. Man könnte also von einem gut komponierten Fotobuch sprechen, wenn die Betrachter*innen bis zum Schluss auf dem „Dancefloor“ bleiben.  Wenn es der/dem Künstler*in gelingt die Spannungskurve durch die visuellen Signale/Kontrapunkte so zu steuern, dass alle beim Blättern und Lesen des Fotobuches mitgehen und in gewisser Weise zu den Bildern mit dem Arsch wackeln. Und dann gibt es noch den „Drop“. Hä ? Ja, das ist der ultimative Höhepunkt eines Musikstückes und kann natürlich auch der Höhepunkt eines Fotografiebuches sein. Der Musiker Gregor Schwellenbach, der an der Folkwang Universität der Künste in Essen Pop-Arrangements unterrichtet, erklärt den Drop folgendermaßen. „Man kann Frequenzen wegdrehen, dadurch baut sich eine Spannung auf und dann dreht man die Frequenzen wieder rein und dann freut man sich, dass sie wieder da sind. Wenn ich beim Reden so plötzlich meine Stimme weg mache und dann bin ich wieder da – ein schöner emotionaler Moment und das macht man als DJ und kann man als Produzent auch machen, man kann Instrumente wegnehmen und dann kommen sie alle wieder und dann hat man Spannung aufgebaut und wieder aufgelöst.“ Eine schöne Analogie. Da zum Beispiel die leeren Seiten (Vakatseiten), innerhalb eines Buches, eine ähnliche Funktion haben können. Die Leere baut Spannung auf, die Konzentration steigt und – beim Umblättern zur nächsten Seite – setzt im übertragenen Sinn der Bass wieder ein und es geht weiter im Flow der Bilder. Musik – und in diesem Fall handelt es sich um klassische Musik – bestimmt heute mehr denn je meine Fotografie, begleite ich doch seit vielen Jahren das Orchester der Bamberger Symphoniker in ihrem Schaffen und auf ihren Tourneen. Mit Hilfe von Musik Bilder oder Bildstrecken zu kreieren ist das eine, aber Musik in Bilder zu übersetzen ist das andere – und mit unter wesentlich schwierigere. Natürlich höre ich bei meiner Arbeit mit den Bambergern keine elektronische Musik, sondern gebe mich den Stücken von Mahler, Dvořák, Smetana … hin. Im Flow der Musik z.B. eines Gustav Mahlers entwickele ich einen neuen Zugang zur Fotografie mit Hilfe der Musik. Diese leitet mich und versetzt mich in einen Gemütszustand, der mich visuell empfänglicher macht: die Arbeit, das Fotografieren verschmilzt mit dem Hören der Musik und manchmal ist dann nicht nur das Editieren, sondern schon das Fotografieren wie eine nicht endende Nacht auf dem Dancefloor und ich warte, warte, warte auf den heiß ersehnten „Drop“. *Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, insbesondere in der Malerei, München 1912 Bamberg Symphony, Nora Gomringer & Andreas Herzau, Hatje Cantz, 2016 Bamberg Diary #01, Nimbus Books, 2020

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