Faschismus und Sozialismus

Heute kann man Linke bereits in Rage versetzen, wenn man statt »Nazis« abzukürzen von »Nationalsozialisten« spricht. Kein Schmutz darf auf das geheiligte Schlabberlätzchen des Sozialismus gelangen. Sie tun ganz so, als gäbe es nur eine oder nur eine richtige und wahre Form des Sozialismus. Sie haben ganz offensichtlich nicht einen Blick in das »Kommunistische Manifest« von Friedrich Engels und Karl Marx geworfen, wo die Autoren 1848 unmissverständlich den »feudalen«, »kleinbürgerlichen«, »wahren« (= falschen), »konservativen« und »Bourgeoissozialismus« anprangerten. Sie wollen vergessen, was marxistische Sozialisten dann unter Josef Stalin oder Mao Zedong den Menschen angetan haben. Sie unterstellen, es wäre besser gewesen, wenn die Nationalsozialisten echte Sozialisten gewesen wären. Wir können diese Verwirrung sehr gut bei Wilhelm Reich aufspüren. Er ringt mit ihr. Er weiß, dass sie falsch ist. Er findet aber keinen geeigneten Packan, um sie zu überwinden. Im  Anfang seiner »Massenpsychologie« konstatiert Wilhelm Reich »das Versagen der Arbeiterinternationale beim Ausbruch des 1. Weltkriegs« (1946: S. 27; 1933 identisch: S. 14). Das »Versagen« der sozialistischen Arbeiterbewegung setzt nicht bei Stalin ein, nicht einmal bei Lenin (den Wilhelm Reich über alle Maßen verherrlichte und sogar in der Fassung von 1946 aus der Schusslinie der Kritik herauszunehmen versuchte), sondern es bestand darin, dass sie beim Ausbruch des ersten Weltkriegs keine internationale Front gegen die kriegführenden Staaten zu bilden vermochten. Das Konzept der sich (teils fälschlich) auf Karl Marx berufenden Sozialisten in der reformistischen ebenso wie in der revolutionären Variante war bereits 1914 erledigt, und hatte nicht erst 1917, 1927 oder gar 1934 seine Unschuld verloren. Wie wurde – [1933: Warum war] – »der massenpsychologische Boden fähig, die imperialistische Ideologie aufzusaugen, die imperialistischen Parolen in Tat umzusetzen. Man beantwortet die Frage nicht zufriedenstellend, wenn man den ›Umfall der Führer der II. Internationale‹  dafür verantwortlich macht. Warum ließen sich die Millionenmassen der freiheitlich [1933: sozialistisch] und antiimperialistisch gesinnten Arbeiter verraten? […] Wer die Mobilisierung 1914 mitgemacht hat, weiß, daß sich in den arbeitenden [1933: proletarischen] Massen verschiedenartige Stimmungen zeigten. Von bewußter Ablehnung bei einer Minderheit angefangen über eine merkwürdige Ergebenheit in das Schicksal oder einer Stumpfheit bei sehr breiten Schichten bis zu heller Kriegsbegeisterung nicht nur in Mittelschichten, sondern weit hinein in Industriearbeiter-Kreise [1933: proletarische Kreise]. Die Stumpfheit der einen wie die Begeisterung der anderen waren fraglos massenstrukturelle Fundierungen des Krieges« (1946: S. 42; 1933: S. 38). Die Kriegsbegeisterung ist das eigentliche Fundamt des Verhängnisses. Das »Versagen« ist also nicht in einer subjektiven Bosheit oder einer persönlichen Unzulänglichkeit der Führer zu suchen, sondern gerade darin, dass sie den Massen folgen (nicht etwa die Masse ihnen). Die Massen und ihre Psychologie sind das Problem und auch irgendwie das Übel selber: Dass es sie gibt. Dass sie strukturiert sind, wie sie es sind. Wilhelm Reich kommt zu sprechen auf »kluge, ehrlich gesinnte, wenn auch nationalistisch und metaphysisch denkende Revolutionäre wie Otto Strasser« (1946: S. 28; identisch 1933: S. 15). Otto Strasser, 1897 -1974. Kaum zu glauben, das Wilhelm Reich ernsthaft davon ausgehen konnte, Otto Strasser wäre als Machthaber weniger schlimm wie Hitler oder wie Stalin gewesen. Reich selber weist ja oft genug darauf hin, der Faschismus könne nicht auf den schlechten Charakter einiger führender Köpfe zurückgeführt werden, gründe vielmehr in einer zum Faschismus treibenden gesellschaftlichen Dynamik. Ich sehe eine Parallele zu der Behauptung von Hans-Georg Gadamer, »wenn Hitler [Ernst] Röhm [1887-1934] und nicht [Hermann] Göring [1893-1946] gewählt hätte, dann hätte es die Vernichtungslager nicht gegeben«. Seine Behauptung stand in dem Kontext, dass nach einer Veröffentlichung von Martin Heideggers massiver Parteinahme für den Nationalsozialismus die »Auswirkungen« diskutiert wurden, die diese Erkenntnis fürs Verständnis der Philosophie von Heidegger haben sollte. Gadamer, obwohl kein ausgesprochener Freund Heideggers, weder in philosophischer noch in persönlicher Hinsicht, versucht – wie auch die übrigen Teilnehmer des Kolloquiums – Heideggers Position als eine »revolutionäre Vision« verständlich werden zu lassen. Die Möglichkeit, dass der Nationalsozialismus bei anderer personeller Besetzung nicht in die Katastrophe geführt haben könnte, ist ein übles Stück idealistischer Verklärung: Der böse Hitler (oder im Fall von Gadamer nicht einmal der Führer selber, sondern sein Gehilfe Göring) wäre schuld. Ein Andrer, sei es Röhm, sei es Strasser, hätte es nicht so weit kommen lassen und die im Kern wohltuende Idee des Nationalsozialismus realisiert. Mit Soziologie sind solche Irrungen wohl nicht mehr zu erklären, vielmehr nur mit einer Analyse kranker Psychen. Dass Wilhelm Reich dieser Verklärung erlag, ist für mich noch erschreckender als es bei Gadamer der Fall ist, der über kein analytisches Instrumentarium verfügte, es besser zu wissen. Reich hätte es besser wissen können und sollen. Und doch passt der Ausrutscher bezüglich Otto Strassers auch bei Reich ins Bild: In gleicher Weise behauptete er, die bolschewistische Revolution in Russland wäre segensreich gewesen bzw. ge­blieben, wenn bloß hätte verhindert werden können, dass Josef Stalin die Macht übernimmt. Manche Male behauptete Wilhelm Reich es, doch auch hier wusste er’s besser. Sein Kopf wusste es besser, nicht sein Magen. Es ist immer wieder dasselbe Elend: Man kann es nicht lassen, auf die Güte der Mächtigen zu hoffen. Was Wilhelm Reich verführt haben mochte, Otto Strasser die Stange zu halten, könnte Reichs fehlgeleiteter Antikapitalismus sein. Strasser war der führende Kopf des linken, des antikapitalistischen Flügels der NSDAP und ein erklärter Gegner Hitlers. Das allein macht ihn noch lange nicht zu einem guten Menschen, ebenso wenig, dass er kaum für Antisemitismus sich erwärmte. Auch nach dem zweiten Weltkrieg engagierte er sich weiter in rechtsradikalen antikapitalistischen Kreisen. Seine Alternative zum Kapitalismus war jedoch der Staat. Und in der Version der »Massenpsychologie« von 1946 macht Reich eins deutlich: Für ihn ist der Staat keine Lösung. Bezüglich keines Problems. Er ist das Problem. Der junge Paul Goodman versuchte, Reich klar zu machen, dass er im Grunde seines Herzens Anarchist sei, aber Reich wies ihn ab, er habe bereits genug Probleme an der Backe und könne es nicht gebrauchen, auch noch als Anarchist verfemt zu werden. Recht hatte er. Und doch unrecht. Hingegen blendete Wilhelm Reich vollständig aus, dass der Holodomor der UdSSR in der Ukraine 1932, der Beginn der Lager, der Schauprozesse, das Abschlachten der Anarchisten und anderer Oppositioneller vor allem dazu beitrugen, dass der Parteikommunismus in den Augen von immer weniger Menschen Deutschlands als Alternative für das Elend der Demokratie gesehen werden konnte. Die Massen haben die schlechteste aller Möglichkeiten gewählt. Warum? Darum geht es in der »Massenpsychologie des Faschismus«, wenn wir sie aus einer heutigen Perspektive an Wilhelm Reich anknüpfend, jedoch auch über ihn hinausgehend weiterführen wollen. »Ohne das Versprechen, den Kampf gegen das Großkapital aufzunehmen, hätte Hitler die Mittelschichten nie gewonnen. Sie verhalfen ihm zum Siege, weil sie gegen das Großkapital waren. […] Sofern der Nationalsozialismus seinen Charakter als Mittelschichtbewegung hervorzukehren gezwungen war (vor der Machtergreifung und knapp nachher), ist er in der Tat antikapitalistisch [1946: und revolutionär]« (1946: S. 59; 1933: S. 67 f). Sofern Antikapitalismus revolutionär ist, ist Revolution falsch. In Wirklichkeit ist der Antikapitalismus aber das A und O des bestehenden Etatismus: Darum finanzierte das Großkapital die NSDAP beim Endspurt, also nachdem klar war, dass die Weimarer Republik keinen Bestand mehr haben würde. Die nationalsozialistische »Revolution« war das Gegengift gegen eine Erhebung, die die faschistischen nicht weniger als die kommunistischen sowie etablierten Bonzen hinweggefegt hätte. Hätte. Denn die Freiheit war aufgeteilt in zwei Lager, den Liberalismus und den Anarchismus, die sich bekämpften und stattdessen mit ihren jeweiligen Erzfeinden paktierten, Liberale mit den Faschisten, Anarchisten mit den Kommunisten, von denen sie umgehend, nachdem sie ihre Funktion als nützliche Idioten übererfüllt hatten, an die Wand gestellt wurden. Wilhelm Reich entkam mit knapper Not; nie hat er bis dahin gefunden, seine Verankerung in jenen beiden Lagern der Freiheit gänzlich zur Kenntnis zu nehmen; leider. Mir scheint ein Schaudern durch Wilhelm Reich zu gehen, wenn er einen Dr. Jarmer – d. i. Ernst Jarmer, 1886 -?, Rechtsanwalt und im NS-Staat für »Raumordnung« (ein Euphemismus für die brutale »Osterweiterung«) zuständig – aus dem »Angriff« vom 24. 09. 1931 zitiert, der als Trennlinie zwischen den Deutschnationalen und Nationalsozialisten definiert, jene würden sich nur gegen den internationalen, diese jedoch auch gegen den nationalen Kapitalismus wenden. Reich dazu: »Das klingt [ja!] fast kommunistisch« (1946: S. 79; identisch 1933: S. 104). Das klingt (ja) fast, als hätten die Nationalsozialisten zu den Guten werden können, wenn sie echte Kommunisten gewesen wären, wenn Otto Strasser – oder nach Gadamer: Ernst Röhm, oder nach den Jüngers: Ernst Niekisch – sich durchgesetzt hätte. Was für ein Illtum, um mit Ernst Jandl zu sprechen. Im Ernst? (Oder im Anfang?) Umgekehrt, der Fehler des Nationalsozialismus war nicht, zu wenig sozialistisch zu sein, sondern der des bolschewistischen Kommunismus, zu national zu werden. Einer »großen Anzahl von Wissenschaftlern, Journalisten, Arbeiterfunktionären« sei schon in den 1930 er Jahren »klar« geworden, notiert Wilhelm Reich in der Version 1946 (S. 197), dass es sich bei der Sowjetunion unter Stalin »um ›Nationalismus‹ handelte. Man war sich nicht klar darüber, ob [dass?] es sich um Nationalismus faschistischen Musters handelte«. Trotz Antikommunismus im Nachkriegsjahrzehnt war, ist … bleibt es absolut tabuisiert, die Koalition mit Stalin, um zum Sieg über den Nationalsozialismus zu führen, in Frage zu stellen. Wilhelm Reich ist der Nestbeschmutzer. Für alle. Für immer. Für alle Andren jedoch der Held. »Die faschistische Ideologie meinte es ehrlich. Wer diese subjektive Ehrlichkeit nicht einsah, der begriff den ganzen Faschismus und seine Anziehungskraft auf Massen nicht« (nur 1946: S. 214). »Es ist nie aus den Augen zu verlieren, daß Hitler stets an den berechtigten [sic] Haß des Massenmenschen gegen die Scheindemokratie und das Parlamentssystem anknüpfte« (nur 1946: S. 233). Die faschistische Ideologie, heißt dies, meinte es ehrlich mit ihrem Antikapitalismus und Sozialismus. Und Antikapitalismus wie Sozialismus sind, vom Standpunkt der Freiheit, des Wohlstands jedes Menschen und seiner Lebenslust aus gehen, falsch. Auch heute fehlt ein jedes Verständnis dafür, dass der viel gescholtene und nie verstandene (Rechts-) Populismus irgend ein Interesse bedienen muss, weil er sonst keine Massenbewegung werden könnte und kein Populismus wäre. Die Behauptung, es möge gelingen, eine Massenbewegung zu entfachen, die auf der reinen Verführung oder Manipulation basiert, wäre nichts als Verschwörungstheorie. Bezogen auf Populismus reagiert die herrschende »Linke« genau wie vordem bezogen auf den Faschismus, indem sie eine (soziologische) Erklärung mit der (politisch-moralischen) Akzeptanz gleichsetzt. Auch diese Abwehr von Erklärung ist natürlich aus dem Interesse der Herrschenden heraus zu erklären, da die Erklärung ihren Anspruch auf Herrschaft schmälert. Nur wer mit den Wölfen heult, bedient sein eigenes Interesse. Wilhelm Reich verstieß gegen seins, so wie es jeder zu tun gezwungen ist, der sich von der Macht nicht korrumpieren und nicht (ver)kaufen lässt. Es ist nicht schwer zu verstehen, aber sehr schwer zu realisieren, dass Opposition kein Erfolgsrezept ist. Darum leben wir, wie Herbert Marcuse sagte, in einer eindimensionalen Gesellschaft ohne Opposition. 1964. 1984. Der Beitrag Faschismus und Sozialismus erschien zuerst auf Berliner Gestaltsalon.

zum Artikel gehen

Sonntag, 29.10.2023 09:00 Uhr

+++ EU-Vertrag mit Pfizer: »Langfristige Wirkungen und Wirksamkeit des Impfstoffs derzeit nicht bekannt« +++ +++ Nichts anderes als bereits vielfach gescheiterter Sozialismus: Viel Lärm um Sahra – ist es ein »Ego-Trip«? +++ +++ 44 Seiten Sprachregelung

zum Artikel gehen

Kundschafter des Friedens 2

Produktionsland: Deutschland Produktion: Andreas Banz, Matthias Miegel und Robert Thalheim Erscheinungsjahr: 2025 Regie: Robert Thalheim Drehbuch: Robert Thalheim, Peer Klehmet Kamera: Henner Besuch Schnitt: Spezialeffekte: Budget: ca. - Musik: Länge: ca

zum Artikel gehen

Aufruf des Internationalistischen Bündnis: Stoppt den Krieg in Gaza und Israel!

Das Internationalistische Bündnis verurteilt die Zusammenarbeit mit allen faschistischen Kräften. Wir lehnen Querfront-Aktivitäten ab, ob in Deutschland oder in anderen Ländern. Wir erleben in den letzten beiden Wochen massive Einschränkungen bis hin zu e

zum Artikel gehen

Paul Goodmans kämpferischer Pazifismus.

Salon-Abend mit Stefan Blankertz, am 14. Oktober 2022, 19.30 Uhr Paul Goodman verweigerte im Zweiten Weltkrieg den Wehrdienst in der Armee der USA; zur Selbstvergewisserung, ob es nötig sei, sich darauf einzulassen, das „kleinere Übel“ (gegenüber dem droh

zum Artikel gehen

Verlust der revolutionären Partei

Ohne revolutionäres Subjekt, was wird aus der revolutionären Partei? Sie müsste sich um ein neues revolutionäres Subjekt kümmern, fragen, wer Träger einer Revolution sein könnte, die zu Freiheit, Frohsinn und Frieden führt. Das aber taten die kommunistisc

zum Artikel gehen