Der Abzug aus dem Gazastreifen spaltete 2005 Israel – und veränderte es für immer. Aus dem Aufstieg der Hamas zog der jüdische Staat eine Lehre: Wer Gebiet aufgibt, bekommt im Gegenzug Hass. Am 17. August 2005 verlor Asaf Altman zwei Dinge: sein Zuhause und Gott. Altman war damals 18 Jahre alt, ein Teenager mit raspelkurzen Haaren und großen, grünen Augen. Altmans Elternhaus stand in einem Ort mit dem Namen „Neve Dekalim“, wo Palmen wuchsen und Kinder auf der Straße spielten und an jedem Haus ein Vorgarten blühte. So erinnert sich Altman. Denn Neve Dekalim, seine Heimatstadt, gibt es nicht mehr. Neve Dekalim war eine israelische Siedlung im Gazastreifen, zwischen der palästinensischen Stadt Chan Junis und dem Mittelmeer. Neve Dekalim gehörte zu einem Netz von 21 Dörfern, die über ganz Gaza verteilt waren. 8000 Juden lebten damals unter 1,4 Millionen Palästinensern. Bis zum 17. August 2005. An jenem Tag verließen die Juden in Gaza ihre Siedlungen – für immer. Die israelische Regierung, damals geführt von Ariel Scharon, hatte angeordnet, Gaza zu räumen. Erstmals in der Geschichte des modernen Israels mussten Juden ihre Ortschaften aufgeben, um sie Palästinensern zu überlassen. Der Plan und seine Umsetzung spalteten damals Israel. Und seine Folgen prägen das Land bis heute. Die früheste Erinnerung, die Asaf Altman an Gaza hat, spielt in einem Auto. Sein Vater sitzt am Steuer, seine Mutter auf dem Beifahrersitz. Sie fahren auf einer Schnellstraße Richtung Norden, als vor ihnen eine Kreuzung auftaucht. „Bieg ab“, sagt Altmans Mutter. Der Vater schüttelt den Kopf, drückt auf das Gas. „Bieg ab!“, ruft seine Mutter. Sie wird laut, droht auszusteigen. „Denk doch an die Kinder!“, schreit sie ihren Mann an. Altman weiß nicht mehr, wie der Streit damals ausging. Er hat diese Situation zu oft erlebt: Geradeaus, das war die Schnellstraße Nummer 4, die von Chan Junis über Gaza-Stadt führte. Rechts bedeutete einen Umweg, der die palästinensischen Städte umfuhr. Wer die schnelle Straße nahm, lief Gefahr, von Steinen getroffen zu werden, die Palästinenser auf vorbeifahrende Autos warfen. Oder von Kugeln aus Scharfschützengewehren. Es gab Verletzte und auch Tote, doch Altmans Vater wollte trotzdem die Schnellstraße nehmen. „Er wollte keine Angst haben“, sagte Altman. „Gaza war doch sein Zuhause“. Altmans Eltern waren Ende der 80er Jahre nach Neve Dekalim gezogen, zwanzig Jahre, nachdem Israel den Gaza-Streifen erobert hatte. Er war Ingenieur, sie Biologin – ein modern-religiöses Paar, das an Gottes Wort glaubte. Sie kamen, weil der Strand nah war und die Mieten günstig. Andere zogen hierher, weil Juden schon zu vorchristlichen Zeiten in Gaza gelebt hatten. Man verband Gottes Notwendigkeit mit dem Nützlichen. Anfangs bewohnte die Familie drei Zimmer, mit jedem Jahr kam ein Kind und ein Zimmer dazu. Heute hat Altman sieben Brüder und Schwestern. Sie alle sind in Gaza geboren. Je älter Altman wurde, desto mehr spürte er, dass Neve Dekalim keine gewöhnliche israelische Stadt war. Die Spannungen zwischen Juden und Palästinensern wuchsen. Ab dem Jahr 2000 wurden die Angriffe auf Siedler häufiger. Bewaffnete Palästinenser drangen in die Siedlungen ein, Militante schossen Raketen auf die Orte. Manchmal fielen Dutzende Geschosse am Tag auf Neve Dekalim. Altmans Kinderleben musste nun rund um die Uhr geschützt werden. Selbst der Schulbus war gepanzert und wurde bei jeder Fahrt von einem Armeekonvoi begleitet. Der damalige Ministerpräsident Ariel Scharon galt als Hardliner – doch die Bevölkerung achtete ihn. 2003 wagte Scharon, was kein Ministerpräsident vor ihm angetastet hatte: Er kündigte an, die Siedlungen im Gazastreifen zu räumen. Zu groß war der logistische Aufwand, der finanzielle Preis, den Israel für den Schutz von einigen Tausend Siedlern zahlte. Kämpf, kämpf, riefen die Nachbarn Altman zu Die Juden in Gaza nahmen Scharon nicht ernst: Wie oft schon hatte Israel in den vergangenen Jahren einen Abzug aus dem einen oder anderen Gebiet diskutiert? Die Rabbiner in Gaza unterstützen die Ungläubigkeit. In den Synagogen predigten sie jeden Tag: Gott wird einen Abzug nicht erlauben. „Man kann es sich nur schwer vorstellen“, sagt Altman heute. „Aber wir haben ihnen alle geglaubt.“ Altmans Familie packte bis zuletzt nicht. Schließlich räumten sie ihre Habe in Kisten, setzten sich ins Wohnzimmer und warteten. Mittags kam ein Soldat, um sie abzuholen. Vor der Tür blieb Altmans Vater stehen: Er wollte die Mesusa abnehmen, eine Kapsel, die nach jüdischem Ritus den Haussegen schützen soll. Er sprach ein Gebet, und zum ersten Mal in seinem Leben sah Asaf Altman seinen Vater weinen. Auf dem Weg zum Bus erblickte Altman Soldaten, die sich in Reih und Glied aufgestellt hatten. Er ging vorbei an der Synagoge, in der sich hunderte Siedler verschanzt hatten. Passierte ein Haus, das mit Stacheldraht umwickelt war: Die Bewohner wollten so die Armee abhalten. „Kämpf, kämpf!“, riefen die Nachbarn Altman zu. Doch Altman wollte nicht kämpfen. Sein Leben lang hatte er Gottes Wort befolgt: am Schabbat gebetet, die Schriften studiert, Fleisch nicht mit Milch gemischt. Wenn er Fragen hatte, wandte er sich an die Rabbiner, und wenn er unsicher war, sprach er zum Allmächtigen. Sie alle hatten versprochen, dass er Neve Dekalim nie verlassen müsse. Am 17. August 2005 fuhr Altman mit einem Überlandbus ein letztes Mal durch Gaza und fragte sich, ob es Gott angesichts dieses Tages überhaupt geben konnte. An jenem Tag, nur einige hundert Meter entfernt, saß Ijad al-Saqqa vor seinem Fernseher und sah die Bilder der weinenden Israelis. Sie waren unterlegt mit Triumphmusik. Al-Saqqa, ein rundlicher, humorvoller Mann mit tief dunkler Haut und schwarzem Schnurrbart, war damals 30 Jahre alt. Er arbeitete als Landwirt in Al-Mawasi, einem schmalen Küstenstreifen, umgeben von israelischen Checkpoints. Wer hinein und hinaus wollte, musste durch Neve Dekalim und durch israelische Kontrollen. Al-Mawasi war eine Enklave in der Enklave. Viele Siedler seien nette Menschen gewesen, sagt al-Saqqa heute. Er sprach mit ihnen Hebräisch, sie mit ihm Arabisch. Doch die Präsenz der Armee, die Kontrollen, sagt al-Saqqa, habe das Leben der Palästinenser abhängig von israelischem Willen gemacht. Selbst wer ins Krankenhaus musste, brauchte dafür eine Passiererlaubnis. Eine Frau, die ihr Kind an einem Kontrollposten gebären musste, nannte es „Hijaz“ das arabische Wort für Checkpoint. Jetzt werden wir frei sein. Immer wieder führte die israelische Armee Razzien in palästinensischen Orten durch, setze Waffengewalt ein, um mutmaßlich Militante zu verhaften. Zwischen 2000 und 2005 starben der Menschenrechtsorganisation Betselem zufolge dabei 849 palästinensische Zivilisten. Als al-Saqqa im Fernsehen sah, wie die Juden ihre Häuser verließen, war er glücklich. „Jetzt werden wir frei sein“, dachte er. Nun, da ihre Nachbarn weg waren, konnten Bauern wie al-Saqqa Hunderte von Gewächshäusern übernehmen, die die Siedler hinterlassen hatten. Neve Dekalim war der „Obstkorb von Gaza“ genannt worden – nun hofften die Palästinenser auf reiche Ernte. Auch Politiker und Ökonomen sagten Gaza einen Wirtschaftsaufschwung voraus. Ein demokratisch regiertes Gaza sollte ein neues „Dubai am Mittelmeer“ werden: Am Strand sollten Hotelanlagen entstehen, ein Hafen, ein Flughafen. Die internationale Gemeinschaft versprach Investitionen in Millionenhöhe. Al-Saqqa begann, auf den Feldern der Siedler Tomaten und Gurken anzubauen. Doch die Preise sanken rapide: Weil das Gemüse nicht mehr „Produced in Israel“ war, brachte es auf dem Weltmarkt plötzlich nur noch einen Bruchteil des Ertrags. Falls es überhaupt ausgeliefert werden konnte. Denn die Israelis blieben nach dem Abzug Herr über Gazas Grenzen. Und auch die Terroranschläge hörten nicht auf. Die erste Rakete aus Gaza flog wenige Stunden, nachdem die Armee das Gebiet verlassen hatte. Kein halbes Jahr nach dem Abzug entdeckten Soldaten einen mit Sprengstoff gefüllten Tunnel, der nach Israel führte. Israel schloss daraufhin die Grenze. Al-Saqqas Ernte verdorrte vor dem Terminal.Was Sonne und Fäulnis übrig ließen, fraßen die Ziegen. Zwei Jahre nach dem Abzug Israels putschte sich die radikal-islamische Hamas an die Macht. Weil die Islamisten öffentlich Israels Zerstörung fordern, belegte der jüdische Staat Gaza mit einer Blockade. Ein- und Ausfuhr wurden noch stärker begrenzt, wer den Küstenstreifen verlassen wollte, brauchte eine langwierige Erlaubnis. Heute, zehn Jahre nach dem Abzug, ist die wirtschaftliche Lage in Gaza desolat: Einem Bericht der Weltbank zufolge ist beinahe jeder zweite Palästinenser arbeitslos. Unter Jugendlichen sind es sogar 60 Prozent. Freiheit gegem Armut getauscht Vor allem für sie ist das Angebot, für die Islamisten zu kämpfen, verlockend: Sie bietet 200 Dollar Monatslohn und eine Kalaschnikow. Dort, wo Altman aufgewachsen ist, sind heute Erdwälle gezogen. Stacheldraht grenzt das Gebiet ab. Darüber wehen im Wind: die rote Flagge der Volksfront zur Befreiung Palästinas und das schwarze Banner der Dschihadisten. Auf dem ehemaligen Gelände von Neve Dekalim trainieren im Jahr 2015 Militante den bewaffneten Kampf gegen Israel. Wenn al-Saqqa heute durch die ehemaligen jüdischen Siedlungen führt, sieht er sich vor jedem Satz suchend um. Prüft, ob auch ja kein Hamas-Mitglied in der Nähe steht. Von Gadid, einem Nebenort von Neve Dekalim, sind noch einige Häuser erhalten, der Kindergarten und die Synagoge. Dort werden heute Holzlatten gelagert, Kettensägen, Dünger. Al-Saqqa setzt an, blickt sich um. „Vor dem Abzug war dieser Ort ein Paradies“, sagt er dann leise. Sechs Kinder hat al-Saqqa, seine älteste Tochter war sechs Jahre alt, als die Israelis abzogen. Vier Kriege hat sie seitdem erlebt: einen Bürgerkrieg in Gaza, drei Konflikte mit Israel. „Vor 2005 lebten wir hier in einem kleinen Gefängnis, jetzt in einem großen“, meint Al-Saqqa sagt. „Wir haben Freiheit gegen Armut getauscht.“ Nicht nur al-Saqqa hält den Abzug inzwischen für falsch. Auch viele Israelis sehen es mittlerweile als einen Fehler an, die Siedlungen im Gazastreifen aufgegeben zu haben. Denn seit die Hamas an der Macht ist, flogen Tausende Raketen gen Israel. Selbst Israelis, die den Palästinensern ihren eigenen Staat gönnen würden, fürchten sich davor, demnächst auch aus dem Westjordanland beschossen zu werden. Für viele Israelis ist der Abzug aus Gaza daher nicht nur Trauma und Verlust. Er wurde für sie zum Totschlagargument für Verhandlungen. In dem Beschuss der Hamas sehen sie auch eine Lektion: Wer Gebiet aufgibt, bekommt im Gegenzug Hass. Am jenem 17. August, als die letzten Siedler aus Gaza abgeholt wurden, saß Dov Weissglas in seinem Wohnzimmer nördlich von Tel Aviv vor dem Fernseher. An die Anspannung erinnert er sich noch heute: Würden die Siedler Gewalt anwenden? Als es geschafft war, es keine Toten oder Schwerverletzten gegeben hatte, war Weissglas erleichtert und auch froh. Weissglas, kahler Kopf, weißes Hemd, arbeitete 2005 als Berater und Bürochef von Ariel Scharon. Schon als junger Mann hatte er Scharon als Anwalt verteidigt. Im Prinzip tut er heute dasselbe – nur dass nicht mehr Richter das Tribunal bilden, sondern die Geschichte. Auch ohne den Abzug wäre es so gekommen. Weissglas sagt, er sehe sich als eine Art Nachlassverwalter. Fragt man ihn zur Politik von Scharon, beginnt er seine Antworten mit „wir“. Anders als viele israelische Politiker hält Weissglas den Abzug noch immer für richtig. Es sei unmöglich gewesen, die Siedler in einer derart aufgeheizten Atmosphäre zu schützen. Und die Raketen, die heute auf Israel regnen? „Auch ohne den Abzug wäre es so gekommen“, sagt Weissglas. Die Hamas hätte sich an die Macht geputscht – mit Anwesenheit der Siedler oder ohne. Siedlungen, sagt Weissglas, vermittelten ein Gefühl der Kontrolle. Aber sie seien für die Sicherheit Israels nicht entscheidend. Was wirklich schütze, seien starke Sicherheitskräfte der palästinensischen Autonomiebehörde. „Was in Gaza passiert ist, wird sich sehr wahrscheinlich im Westjordanland nicht wiederholen. Die Gesellschaft ist dort eine andere, das Wohlstandsniveau ist höher, die Politik ist säkularer.“ Nicht nur Israel habe seine „Lektion Gaza“ gelernt, sagte Weissglas, sondern auch die Palästinenser. Sie könnten kein Interesse daran haben, einen zweiten, wirtschaftlich zerstörten und international geächteten Terror-Staat zu unterhalten. „Wäre Scharon noch am Leben – er würde ohne Zweifel v erhandeln, auch Siedlungen im Westjordanland abbauen“, sagt Weissglas. Ökonomen und Politikwissenschaftler sind sich heute weitgehend einig, dass Gazas Scheitern sich nicht wiederholen muss. Der Abzug 2005 war ein einseitiger, die damalige palästinensische Führung kein Teil der Entscheidung gewesen. Ein „Friedensmonolog“ wäre heute nicht mehr nötig: Israel arbeitet in Sicherheitsfragen seit Jahren mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zusammen. Und die ist bereit, jede Friedenstruppe der Welt im Westjordanland zu akzeptieren. Natürlich bleibt ein Restrisiko, sagt Weissglas. Aber legitimiert das tatsächlich die Besatzung von 2,2 Millionen Menschen? „Man sollte kein anderes Volk besetzen.“ Doch rationale Argumente sind oft machtlos gegen Angst. Asaf Altmans Familie lebt heute in Nitzan, einem kleinen Ort 25 Kilometer nördlich des Gazastreifens. Regelmäßig heulen dort seit dem Abzug die Sirenen: Wenn eine Rakete aus Gaza im Anflug ist, bleiben den Altmans 30 Sekunden für den Weg in den Bunker. Altman ist inzwischen von Zuhause ausgezogen. Er studiert Bauingenieurwesen und lebt in einer WG in Jerusalem. Manchmal fährt er am Wochenende zu seinen Eltern nach Nitzan. Dann schläft er in seinem Zimmer, das noch immer so aussieht wie damals in Gaza: Bett und Schrank hat die Armee aus ihrem Haus nach Israel gebracht. Nur die Gebetbücher hat er aus seinem Zimmer entfernt. „Ich möchte sie nicht mehr um mich haben“, sagt Altman. Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag.
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