"Abschlussball" von Jess Jochimsen Am meisten mag ich die Schler, die gar nicht Trompete lernen wollen. Jene, die ihr Kfferchen lieber zulassen wrden, die mich in Gesprche verwickeln und sich die unglaublichsten Ausreden einfallen lassen, warum sie in der letzten Woche wieder nicht zum Spielen gekommen sind. Marten ist Mitte dreiig und Beerdigungstrompeter. Auf dem Mnchner Nordfriedhof fhlt er sich wohl, denn dieser Ort ist ruhig, klar strukturiert, gut ausgeschildert und kaum von Lebendigen bevlkert. Es sei denn, es ist Abschlussball. So nennt Bestatter Berger die anonymen Armenbegrbnisse, zu denen er eine richtige Friedhofs-Party schmeit. Er organisiert von Stiftungsgeldern und aus Spenden Redner, Musiker und eine Cateringfirma, auf dass sich die ansonsten unbemerkte Abschiedsmanahme eines Obdachlosen oder vllig Vereinsamten in eine handfeste Sause verwandelt, bei der die Schnorrer und schrgen Vgel zusammenkommen. Auf einem solchen Abschlussball wird ein ehemaliger Klassenkamerad von Marten zu Grabe getragen: Wilhelm Schocht, damals der Schwarm vieler Mdchen und ein souverner berflieger, dem die ganze Welt offenstand. Marten fragt sich, was aus Wilhelm im Laufe der Zeit geworden ist und wer anonym 50.000 Euro fr die Beerdigung gespendet hat. Schlielich findet er sogar Wilhelms Kreditkarte. Laut Klappentext beginnt nun fr Marten eine groteske Irrfahrt. Er wird in einen Strudel merkwrdiger Ereignisse gezogen und lernt kennen, wovon er sich Zeit seines Lebens so mhsam ferngehalten hat: andere Menschen, Geld, Abenteuer, die Liebe. Kurzum: Glaubt man dem Klappentext, dann muss der wundersame Lebensverweigerer nun das Abenteuer seines Lebens bestehen. Gut, wer eine Fahrt in einem Paternoster fr eine groteske Irrfahrt und eine halbstndige S-Bahn-Reise nach Mnchen-Zorneding oder die Kommunikation mit einem Unbekannten via Online-Banking-Verwendungszweck fr waschechte Abenteuer hlt, wird sich durch den Klappentext nicht getuscht sehen. Robustere, weltgewandte Naturen knnten hingegen spitzfindig werden und einwerfen: Selten wurde ich so genasfhrt. Hier passiert nichts, was dramatischer wre, als das, was ich Tag fr Tag und Woche fr Woche erlebe! Aber: Das ist ja der Witz! Der Icherzhler Marten fhlte sich als Kind schon alt und meistens mde. Der ungelenke Elan der Jugend geht ihm ebenso ab, wie die Gier der Erwachsenen nach Geld, Anerkennung, Sex. Martens Krfte sind durch anderes gebunden. Man kann es eine Depression nennen, muss man aber nicht. Die Strke von Jess Jochimsen besteht nun darin, diesen scheinbar langweiligen Menschen und sein scheinbar langweiliges Leben mit Wrme, Witz und einer groen Liebe fr das Kauzige so zu schildern, dass eine Paternoster-Fahrt tatschlich zu einem Abenteuer wird. Der Roman ist eine phantastische Antithese zum Hher-Schneller-Besser einer Selbstoptimierungs-Gesellschaft auf dem Weg in jenes Ausgebranntsein, das Marten schon von Kindesbein an versprt. In einem lngeren, zweiten Teil erfahren wir genug ber das Vorleben des Protagonisten, um seinen Zustand berhaupt nicht unplausibel zu finden, ohne dass viel erklrt oder herumpsychologisiert wird. Danach tritt das Buch dramaturgisch einerseits halbwegs auf der Stelle, zeigt aber andererseits, dass es vermutlich gar nicht so wichtig ist Voranzukommen, sondern auf die Details am Wegesrand zu achten: Die Begegnung mit einem norddeutschen Gebetskettenschnitzer, der Erwerb eines taubenblauen Anzugs im Keller des 80-jhrigen Ridler junior, die Lektre einer unvollstndigen Geschichte der Begrbnis-Violine, die Reflexion ber Text und Musik von Muss i denn zum Stdtele hinaus. Dazu gibt es noch ein paar Einsprengsel aus dem uvre des extrem bellaunigen und kryptofaschistischen Dichterphilosophen E.M. Cioran. Der rumnische Privatnachdenker mag eine gute Illustration dafr sein, dass eine (modische) Affre mit Nihilismus und radikaler Kulturkritik, bald zu einem Stelldichein mit deren fieser Schwester, der faschistischen Kraftmeierei, fhrt fr Jochimsens Buch allerdings ist die ohnehin nur gestreifte Auseinandersetzung mit Cioran verzichtbar. Trotz einer berzahl an Motiven und einer etwas konstruierten und kaum ntigen Dramaturgie ist Abschlussball ein im Tonfall konstant souverner, enorm warmherziger, hchst eigenstndiger und sehr gut lesbarer Roman ber das Verdrngte: Das Nicht-Funktionieren-Knnen, das Altern, das Scheitern, das Sterben, die Trauer und den Tod. Und natrlich ist es ein Buch ber das Leben, die Freude, die Schnheit des Augenblicks und die Liebe in ihren vielen, oft unscheinbaren Facetten, die sich erst dann entfalten kann, wenn eben nicht lnger verdrngt und abgespalten wird. Marten, der Looser, das sind wir, und wir sind wie er: im Herzen Helden vor den Augen der Welt verborgen. Jess Jochimsen: Abschlussball. dtv 2017, gebundene Ausgabe, 312 Seiten, 20 Euro
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