Morgenmeditation

Da ich aufgrund der Corona-Situation nicht mehr so frh aus dem Haus muss, habe ich begonnen, morgens am offenen Fenster zu meditieren. Das Fenster geht nach Nordosten. Der Himmel ist an den meisten Tagen klar, von einem zarten Graublau, mit etwas Rosa. Ich berblicke ein paar Huser und Grten, dahinter erhebt sich ein kleiner, aber steiler Hgel, auf dem hinter ein paar Schrebergrten der Wald anfngt. Hinter diesem Hgel kommt die Sonne emporgekrabbelt. Zunchst sieht man ein Gleien zwischen den Bumen, das es einem fast unmglich macht, noch deren Umrisse zu erkennen. Wenn Wolken am Himmel schweben, frben sich diese silbriggelb und manchmal rtlich, als wrden sie selbst leuchten. Langsam kann man die runde Form der Sonne erkennen, und mir wird bewusst, warum wir sie als Kinder mit Strahlen malen, die in alle Richtungen abstehen. Spter lernen wir, dass die Sonne eine Kugel ist, und so sehen wir sie dann auch. Aber tatschlich: Ich muss die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden, und da sind sie pltzlich: die Strahlen. Alles wird in ein warmes Licht getaucht; der Rauch einiger umliegender Huser schimmert goldgelb. Wo das Sonnenlicht auf die Bltter der Pflanzen trifft, fangen diese an zu strahlen. In einem Goldgrn, das fast wirkt, als htte ein Fotograf einen kitschigen Filter benutzt. Nach und nach berzieht dieser Filter alles, bis auch der Rasen mit den inzwischen letzten verbliebenen Pusteblumen warm glnzt. An manchen Tagen bleibt mir dieses Schauspiel verwehrt. Dann ist der Himmel von einer dicken grauen Schicht bedeckt, die nicht einmal erahnen lsst, wann die Sonne aufsteigt. Es sieht aus, als wrde die Welt gar nicht aufwachen. Doch auch an diesen Tagen ist alles von der morgendlichen, friedlichen Ruhe erfllt. Oder es regnet. Mit leisen Tropfen. Ein feines, stetiges Gerusch. Das sanfte Rauschen hat etwas Beruhigendes, wie ein Schaukeln oder Gewiegtwerden. Die Bltter der Bume und der Rasen bleiben an diesen Tagen dunkelgrn, aber die Feuchtigkeit verleiht ihnen auf eigene Weise Glanz. Um diese Zeit hrt man kaum menschengemachte Laute, dafr aber die Vgel. Es ist ein regelrechtes Konzert, egal ob Regen, Sonne oder undefinierte graue Wolkenmasse. Ich vermag keine der Stimmen einem bestimmten Vogel zuzuordnen, ich kann die Tiere nicht einmal sehen. Sie sitzen versteckt im Gest der Bume in den Grten und auf dem nahen Hgel. Doch ihre Stimmen werden mir jeden Tag vertrauter. Es sind so viele unterschiedliche: Ein helles, durchdringendes Piepsen; ein frhliches Zwitschern; ein melodisches Pfeifen; ein freches Krchzen; ein Singen, das fast wirkt, als folgte der Snger einer Partitur. Ab und zu krht der Hahn der Nachbarn, unberhrbar und vernehmlich, als wolle er verknden, dass er der Lauteste von allen ist, egal wieviel Mhe sich die anderen geben. Auch die Bume auf dem gegenberliegenden Hgel sind langsam alte Bekannte: Allesamt irgendwie strubbelig, ungekmmt, ungezhmt. Doch Bad-Hair-Day, oder besser Bad-Leaf-Day, ist ihnen ein Fremdwort. Jeder ist anders. Einer sieht aus, als wrde er sich recken, zwei ste nach oben gestreckt wie Arme. Auch die anderen entfalten ihre Kronen in ihrer persnlichen, wuscheligen Pracht: breit, schmal, rund. Es sind berwiegend Laub-, aber auch einige wenige Nadelbume. Es ist eine erstaunliche Erfahrung, zu erleben, wie dieser Ausblick, der doch jeden Tag der gleiche ist, nie derselbe ist. Und noch etwas wird mir bewusst: Stille bedeutet nicht die Abwesenheit von Geruschen, sondern nur die Abwesenheit von Lrm. von Julia Steinert

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