Roderich Kreile: Man verschreibt sich dieser Aufgabe mit Haut und Haaren.

Von 1997 bis 2022 war der Dirigent Roderich Kreile Chef des Dresdner Kreuzchores. In einem sehr ausführlichen Interview blickt er zurück auf seine Zeit als Kreuzkantor, spricht über die Besonderheiten des Knabenchores, freudige und schwierige Momente, die Corona-Zeit, umstrittene Auftritte, Religiosität – und darüber, wie der Chor ihn verändert hat.[Transparenzhinweis: Der Interviewer war selbst von 1992 bis 1998 Mitglied im Dresdner Kreuzchor. Das folgende Gespräch entstand im Herbst 2022.] Herr Kreile, Sie waren genau 25 Jahre Chefdirigent des Dresdner Kreuzchores. An welcher Stelle stehen Sie damit in der Rangliste der am längsten amtierenden Kreuzkantoren? Kreile: Das habe ich nicht überprüft. Es gab Dirigenten wie Julius Otto, der fast 50 Jahre Kreuzkantor war, bei Rudolf Mauersberger waren es 40 Jahre. Von der Dauer her liege ich vermutlich im obersten Drittel. Manche sind ja darüber erstaunt, dass man noch so lange in so einer Position arbeiten kann, Intendanten zum Beispiel dienen heutzutage viel kürzer. Doch die Situation beim Knabenchor ist eine, die sich von anderen Berufen im Musikwesen ein Stückweit unterscheidet. Die lange Amtszeit macht also Sinn Bei einem überwiegend auf Pädagogik gegründeten Institut ist es durchaus sinnvoll, wenn ein Leiter lange Zeit Bezugsperson ist – nicht nur für die Kruzianer, die mir anvertraut waren, sondern auch für das Personal. Als Kreuzkantor versucht man seine Vorstellungen den jeweils wandelnden Zeiten anzupassen und Entwicklungen der Gesellschaft aufzuspüren, aufzugreifen und vorzubauen. Denn auch der Dresdner Kreuzchor ist ja nicht abgekoppelt von der Gesellschaft. Was führte denn zur Entscheidung, Ihre Amtszeit nach 25 Jahren zu beenden? Die Entscheidung war von mir lange im Voraus geplant. Ich denke, dass ein Wechsel auf so einer Position irgendwann auch nötig ist, dann braucht es wieder frisches Blut. Mein Nachfolger wird jetzt seine anderen, eigenen Lebenserfahrungen – auch als Kruzianer – einbringen. Er ist in Dresden tief verwurzelt. Für mich persönlich galt immer, dass es auch ein Leben nach dem Kreuzchor geben wird – und das genieße ich jetzt. Ich habe 25 Jahre meines Lebens dem Kreuzchor gewidmet, das war eine ungemein bereichernde Zeit. Dafür bin ich auch meiner Frau sehr dankbar, die das alles mitgetragen hat. Sie ist Schulmusikerin in Bayern und daher immer zwischen München und Dresden gependelt. Dirigieren Sie noch? Ja, ich habe zum Beispiel in München Konzerte des Chores der Christuskirche dirigiert. Den hatte ich 15 Jahre geleitet, bevor ich nach Dresden kam. Ansonsten stürze ich mich im Moment sehr auf die Orgel. Das Orgelspiel hatte ich nie ganz aufgegeben, aber nun hebe ich es wieder auf das richtige Niveau. Ich genieße jetzt die Situation, mein eigener Herr zu sein. Zur Arbeit beim Kreuzchor gehörten ja viele administrative Dinge, was manchmal doch recht anstrengend war. Da bleiben auch Streitereien nicht aus, mit der Stadt, der Kirche und anderen beteiligten Gruppen. Denn letztendlich weiß jeder, der mit dem Kreuzchor zu tun hat, sehr genau, wie der Chor am besten verfasst und in welche Richtung er sich entwickeln sollte. (lacht) Letztendlich mahnen sie immer alle, dass man die Dinge anders machen sollte. Für die Stadt war es vermutlich gut, über lange Zeit beim Chor den gleichen Ansprechpartner zu haben. Sicher. Ich meinerseits habe in meiner Amtszeit verschiedene Oberbürgermeister, mehrere Kulturbürgermeister erlebt, inklusive der unterschiedlichen Möglichkeiten, mit den Leuten gut zu kommunizieren. Die Kontinuität in der Leitung war auch gut für langfristige Projekte wie den Alumnats-Anbau. Ich denke, im Grundsatz ist es schon wichtig dass ein Kreuzkantor das Amt für viele Jahre lang übernimmt. Und jeder, der es werden will, weiß, dass man sich dieser Aufgabe mit Haut und Haaren verschreibt. Aber man wird auch belohnt: So eine facettenreiche Mischung aus pädagogischen, künstlerischen und administrativen Aufgaben ist sehr interessant – und bei Stellen im Musikbereich eher selten. Zum Musikbereich kommt beim Kreuzchor ja die Schule hinzu … und die Eltern (lacht). Ein eigenes Thema, das immer wieder Zeit kostet. Als ich 1997 anfing war die Elternschaft noch sehr auf Distanz, sie haben die Kinder mehr in Ruhe gelassen. Aber dann haben auch wir den allgemeinen Trend erlebt, dass sich Eltern mehr sorgen, immer mehr Mitspracherecht fordern – manchmal auch etwas zu viel. Können Sie das genauer erklären? Wir hatten über die Jahre hinweg eine gute Zusammenarbeit mit den Elternvertreterinnen und -Vertretern, auch wenn sie oft sehr kritisch waren. Schwierig wurde es rund um das Chorjubiläum 2016, wo die Sänger viel leisten mussten. Wir haben zwar, was die Belastung Jugendlicher anbelangt, nie gesetzliche Vorgaben überschritten – doch nach außen wurde damals die Situation sehr stark überzeichnet und dramatisiert. Zum Beispiel weil Leute nicht wahrgenommen haben, dass wir mit verschiedenen Chorbesetzungen gearbeitet haben. Wir haben immer darauf geachtet, dass der einzelne Junge nicht überbelastet wird. Aber – das habe ich oft erlebt – Fakten interessieren im Umfeld eines Knabenchors wenig. Oft werden Meinungen einfach verbreitet und nicht hinterfragt. Das hat leider auch mit dem Aufkommen des Internets zugenommen, wo die Kommunikationsformen ja nicht immer milde sind. Inwieweit ist der Chor auf die Wünsche der Eltern eingegangen? Es gab zunehmend Arbeitskreise, auch mit der Schule, wo wir versucht haben, neue Konzepte zu entwickeln, wie man die Kruzianer schulisch besser fördern kann. Es wurde geprüft, ob ein Realschulabschluss sinnvoll wäre, ob wir für den Chor eine eigene Grundschule anbauen können. Wir waren bei einigen Themen auch relativ weit, aber es scheiterte vieles an der politischen Konstellation. Es gab zum Beispiel die Idee einer Art Gesamtschule für den Kreuzchor, die dann aber mit der Stadtregierung noch nicht realisierbar war. Das war für die Beteiligten, auch für Lehrerinnen und Lehrer, die da viel Arbeit reingesteckt hatten, sehr enttäuschend. Knabenchöre sind eine Nische, haben besondere Bedürfnisse und die passen nicht immer in das allgemeine Schul-Schema hinein. Ist die Belastung für die Knaben über die Jahre Ihrer Amtszeit geringer geworden? Ja, sie haben jetzt häufiger Wochenenden frei. Sie machen immer noch relativ viel, aber das Pensum ist geringer als vor 25 Jahren. Wir mussten einfach zurückschrauben, Probenzeiten reduzieren – das hing zusammen mit der Schule, auch mit Druck der Eltern. Es hieß, die Jungs müssen mehr Pause machen, zudem war die Schule irgendwann nicht mehr so großzügig mit Freistellungen vom Unterricht. Dann kam teilweise Nachmittagsunterricht hinzu, weshalb manche Sänger nicht zu allen Proben gehen konnten. Was manchmal zur Folge hatte, dass ein Kruzianer am Samstag in der Vesper stand, das ein oder andere Stück aber noch nie gesungen hatte. Das war nicht gut, da waren wir gezwungen zu experimentieren. Inzwischen stehen etwas weniger Vespern und Gottesdienste auf dem Plan. ZitiertFür mich ist der Kreuzchor ein lebendiger Organismus. Und seine Aufgabe liegt nicht nur im Bereich der Musik, sondern auch im Sozialen.Ein bin ein kritischer Christ. Ich will die Kinder nicht instrumentalisieren. Die sollten nicht demonstrativ eine als politisch zu wertende Aussagen tätigen.Roderich KreileNächstes Zitat Hatten Sie als Chorleiter, der künstlerische Ziele verfolgt, manchmal das Gefühl, dass der Verwaltungsanteil zu viel Gewicht hat? Ja, der hatte oft zu viel Gewicht. Aber ich denke, die Situation verbessert sich jetzt, da zuletzt viel Personal neu eingestellt wurde. Wir waren über 25 Jahre unterbesetzt, gemessen an den Aufgaben und der Kreuzkantor war in in zu viele Dinge involviert. Andererseits: Wenn man es dennoch alles bewältigt hat, gibt einem das auch ein gutes Gefühl. Als Sie sich damals beworben haben, 1997 Nicht beworben im eigentlichen Sinne. Es gab damals, nach dem Weggang des Kreuzkantors Gothart Stier eine Auswahlkommission, die sich deutschlandweit umschaute und auch mich fragte, ob ich Interesse hätte. Nun bin ich von Haus aus evangelischer Kirchenmusiker und für so eine Position wie Kreuzkantor angefragt zu werden … da fährt man dann schon mal hin Ja, so kam ich dann zu einer Probewoche nach Dresden – und war eigentlich überzeugt, dass ich es nicht werde. Insofern war das eine Überraschung. Meine Frau war zunächst nicht glücklich darüber, hat aber kein Veto eingelegt. Jetzt liebt sie Dresden und den Kreuzchor und ist traurig, dass ich es nicht mehr mache. Von Bayern nach Sachsen zu kommen, war das für Sie damals ein großer Mentalitätswechsel? Eine prägende Erfahrung war für mich das Kommunikationsverhalten. Ich war ja der einzige Wessi und nach kurzer Zeit stellte ich fest, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter irgendwie versuchten, nach den wahren Aussagen zu suchen, wenn der Chef etwas sagt. Für mich galt, wenn ich etwas sage, meine ich es auch so. Aber da wirkte offensichtlich noch die DDR nach, insofern, dass man immer nach einem verborgenen Sinn hinter den Worten gesucht hat. Das war ungewohnt, damit musste ich erst mal lernen umzugehen. Ansonsten unterscheidet sich die Mentalität in Sachsen von der in Bayern gar nicht so sehr. Sowohl Dresden als auch München sind alte Residenzstädte Nur war die Situation der Bevölkerung nach der Wende in Sachsen natürlich etwas angespannter als in Bayern. Wenn man mit Ostdeutschen über die Nachwendezeit spricht, ist oft Verbitterung zu spüren, darüber, dass viele Führungspositionen mit Westdeutschen besetzt wurden. Wurde darüber auch bei Ihnen die Nase gerümpft? Mir gegenüber nicht direkt. Aber im Hintergrund hat es das gegeben. Es gab ein Zitat aus dem damaligen Vorstand der Kreuzkirche, man würde „nicht noch einen Kolonialoffizier brauchen“. Ansonsten hatte ich den Eindruck, dass die Verantwortlichen in erster Linie darauf schauten, wie es im Probensaal läuft. Denn du kannst als Kreuzkantor politisch geschickt sein ohne Ende, die tollsten Konzerte machen – wenn es im Probensaal nicht funktioniert, hältst du es in diesem Job nicht durch. So hat man mich dann eingebürgert. Die Leute merkten ja auch, dass ich nicht darauf aus war, mir meine Wasserhähne vergolden zu lassen, sondern dass ich für den Kreuzchor da war. Trotzdem kann es am Ende immer noch den ein oder anderen geben, der froh ist, dass der Wessi jetzt weg ist. Gab es eigentlich eine Zunahme von westdeutschen Sängern im Chor? Ja, da kamen schon welche. Allerdings: Heute weiß man das oft gar nicht genau, denn die allermeisten Eltern sind inzwischen von der gesamtdeutschen Gesellschaft geprägt. Die meisten kommen jedenfalls aus dem Großraum Dresden, dort sind sie sozialisiert. Kamen auch Sänger aus Ihrer Heimat München? Nein, dass jemand von München sein Kind hierher schickt, das gab es nicht. Da liegen dann Regensburg, Augsburg und Windsbach näher, oder Bad Tölz. © Grit Dörre Sie kamen zu einem Ensemble mit mehreren Jahrhunderten Geschichte, mit wesentlichen Prägungen durch Kantoren wie Rudolf Mauersberger oder Martin Flämig. Standen Ihnen manchmal Traditionen im Weg, bei der musikalischen Entwicklung? Nein, eigentlich nicht. Als ich anfing, habe ich die Vesperprogramme meiner Vorgänger der letzten Jahrzehnte studiert, um ein Gefühl dafür zu kriegen, was das genuine Repertoire des Kreuzchores ist. Es gibt eben ein klassisches Knabenchor-Repertoire und das blieb auch für mich das Kern-Repertoire. Drumherum hat man natürlich auch andere Dinge gemacht, die bestimmte Zeitströmungen widerspiegelten. Nein, ich habe die Tradition nie als Last empfunden. Ich habe es nur als Last empfunden, wenn mir ältere, ehemalige Kruzianer gesagt haben: Mauersberger hat es aber damals ganz anders gemacht. Wie zum Beispiel? Bestimmte Betonungen in seinem Werk „Wie liegt die Stadt so wüst“. Wo ich dann geantwortet habe: Mir gefällt es anders besser. Alle sind verhaftet in ihrer eigenen Epoche, doch auf dem Markt spielen klangliche Entwicklungen eben eine Rolle. Wenn der Kreuzchor heute so klingen würde, wie zu Mauersbergers Zeiten, wäre das eher problematisch. Warum? Weil er andere Tempi dirigierte? Es waren andere Tempi, auch ein anderes Klangideal, bei dem die Männerstimmen schon sehr früh zu einem fast opernhaften, sehr stento-artigem Gesang neigten, was die Mischfähigkeit, Leichtigkeit und Durchsichtigkeit eines Chorklanges eher behindert, also Eigenschaften, die heute wichtig sind. Haben Sie dem Chor einen eigenen Klang geben können über die Jahre? Der Chor hat schon, wenn er entsprechend besetzt war, eine, wie ich es nenne, natürliche Singweise. Nichts Überkandideltes, keine extremen Arbeiten oder Mundstellungssachen, sondern ein Zustand, wo der ganze Gesangsapparat im Gleichgewicht ist, eine gewisse Leichtigkeit und eine Transparenz. Das gefiel mir, so konnte ich den Dresdner Kreuzchor klanglich auch unterscheiden von den Thomanern, Regensburgern oder von den Tölzern. Haben Sie das mal getestet, ob Sie es blind erkennen können? Ich wurde getestet, von Ann-Christine Mecke, der Autorin des Buches „Mutantenstadl“. Sie kam damals zu mir, hat mir Beispiele von Chören vorgespielt und den Kreuzchor habe ich tatsächlich am Klang erkannt. Bei den Regensburgern habe ich gemerkt, dass es ein Internatschor ist, diese Prägung hört man, dazu war die Lautung ein bisschen Süddeutsch, da kamen nicht viele infrage. Sie hat mir auch die Tölzer vorgespielt, da hört man die überweite Mundöffnung, brustige Färbung und einen durschlagender Klang. Frau Mecke war auch bei den anderen Chorleitern. Als sie dem damaligen Leiter der Tölzer eine eigene Aufnahme vorspielte, sagte der: Es ist ein bisschen unsauber, das könnten die Dresdner sein. (lacht) Ein Journalist der FAZ schrieb 2022 in einer Rezension: „Insgesamt scheint Kreiles Ansatz – so kurios das im 21. Jahrhundert klingt – in der Romantik verwurzelt, gefühlsbetont auch bei Alter Musik.“ Finden Sie sich daran wieder? Ja, unbedingt. Ich habe gar nichts dagegen, wenn man auch bei Alter Musik gefühlsbetont ist. Ich dirigiere sie natürlich mit entsprechenden Akzentuierungen und so weiter – aber ich hielte es keinesfalls für ein Ideal, Alte Musik gefühlsarm aufzuführen. Wobei aber auch völlig klar ist: Über meinen Interpretationsstil wird die Zeit genauso hinweggehen, wie über den von Martin Flämig oder Rudolf Mauersberger. Und „in der Romantik verwurzelt“ Unbedingt. Deswegen habe ich ja auch gerne Werke von Mendelssohn oder das Brahms-Requiem aufgeführt. Das liegt mir wirklich sehr, auch wenn ich Schütz liebe. Hatten Sie manchmal das Gefühl, dass Ihrer künstlerischen Freiheit als Kreuzkantor bestimmte Grenzen gesetzt sind? Oder kamen Sie im Musikalischen immer so voran wie Sie wollten? Ich habe mich nie eingeschränkt gefühlt. Die Dinge, die ich machen wollte, konnte ich machen. Klar, es gibt Verträge zwischen Stadt und Kirche, weshalb wir bestimmte Repertoire-Aufgaben zu erfüllen haben, Matthäus-Passion, Brahms-Requiem, Weihnachtsoratorium usw., aber das habe ich auch sehr gern gemacht. Nein, was die Chorliteratur angeht, konnte ich alles mögliche machen, da habe ich keine Defizite gehabt. Interessant waren auch außergewöhnliche Projekte wie zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Staatsschauspiel Dresden. Was waren für Sie Leidenschaftsprojekte, die ein bisschen weiter weg waren vom Kernrepertoire? Das waren oft Dinge, die wir außerhalb Dresdens realisiert haben. Wir waren zum Beispiel Choir in Residence beim Musikfestival Mecklenburg-Vorpommern, wo man themengebundene Sachen auch multimedial machen konnte. Das waren hervorragende Aufgaben für uns. Wie zum Beispiel? Bei einem Projekt ging es darum, eine Reise um die Ostsee zu machen. Dafür wurden dann charakteristische Geräusche aus den verschiedenen Ostsee-Anreinern genutzt, zum Beispiel Werftsgeräusche aus Danzig, ein Glockenspieler aus St. Petersburg bis hin zum Geräusch eines Bernsteinsamsammlers, der Steine knirschen ließ. Wir als Chor haben jeweils länderspezifische Musik dazu rausgesucht, wie Pärt oder Rautavaara und haben in acht oder neun Sprachen gesungen. Das war toll, auch weil es die Leistungsfähigkeit des Dresdner Kreuzkurs in der stilistischen Bandbreite gezeigt hat. Das hat viel Resonanz gefunden, ich hätte dieses Projekt auch gerne in Dresden realisiert, aber da gab es niemand, der das hätte finanzieren wollen. Sie haben in der Kreuzkirche auch Werke aufgeführt, die Kruzianer komponiert haben. Wie kam es dazu, haben Sie das besonders gefördert? Das ergab sich so. Wir hatten immer wieder komponierende Kruzianer, etwa Jan-Arvid Prée, der auf sehr hohem Niveau komponiert hat. Zuletzt hatten wir Anton Matthes, der auch in der Komponistenklasse der Dresdner Musikhochschule ist. Er hat mir ein Werk vorgelegt, das er unter dem Eindruck des Einmarsches Russlands in die Ukraine komponiert hat – da habe ich gesagt, das machen wir. Unser Chorpräfekt Karl Pohlandt hatte 2022 ebenfalls ein großes Werk komponiert und beide haben es dann sowohl in der Kreuzirche als auch auf einer Tournee dirigiert. Meine Anregung war nicht, dass sie komponiert haben, sondern ich habe sie ermutigt, dass wir es mit dem Chor aufführen und sie es selbst dirigieren. Es ist wichtig, dem Publikum zu zeigen, was in diesem Chor entsteht. Und es hat toll funktioniert, die Werke waren wirklich angemessen, sowohl inhaltlich als auch musikalisch, das war Kreuzchor-Literatur. © Jürgen Männel Sie sagten eingangs, als Kreuzkantor müsse man seine Vorstellungen an „wandelnde Zeiten“ anpassen. Welche Auswirkung hat es denn, dass in Deutschland immer weniger Menschen einer Konfession angehören? Man merkt es natürlich an der Klientel, die sich beim Kreuzchor bewirbt: Aus wirklich kirchlich geprägten Elternhäusern sind es inzwischen ganz wenige. Es sind oft moderne Eltern, die für ihren Jungen einen besonderen Bildungsweg suchen, der noch eine gewisse Prägung in bestimmten Traditionen hat, der begleitet ist von Werte-Vermittlung und Erziehung. Religionszugehörigkeit spielt für eine Aufnahme heute also keine Rolle mehr? Nein. Wir haben bekennende Atheisten im Chor, wir hatten auch zwei Muslime – worüber ich insofern froh war, als dass der Kreuzchor natürlich nicht drum herum kommt, Gesellschaft widerzuspiegeln. Warum sollte die Stadt ein so aufwendiges Institut unterhalten, wenn es die Gesellschaft nicht abbildet? Ich darf auch bei meinen Mitarbeitern nicht nach der religiösen Einstellung gehen, sondern wir sind weltanschaulich offen. Meine Auffassung war immer, dass der Kreuzchor ein wertkonservatives Institut ist. Es geht um christlich-humanistische Tradition, gleichzeitig leben wir in einem zunehmend entkirchlichtem Umfeld. Und der Chor will für sein Umfeld natürlich attraktiv bleiben. Wenn man sich beschränkt auf Kinder, die aus christlich geprägtem Elternhaus kommen, würde man längerfristig – sagen wir in einem Zeitraum von 50 Jahren – die Existenz des Chores durchaus gefährden. Außerdem ist es ein städtisch getragener Chor, er muss daher offen sein für alle Bevölkerungsgruppen, die man in der Stadt so findet. Im Alltag der Kruzianer gibt es christliche Rituale, etwa die Andacht am Morgen, der geistliche Gesang zum Mittagessen – gerät das zunehmend in den Hintergrund, wird es vielleicht irgendwann abgeschafft? Nein, es wird nicht abgeschafft. Nur nehmen die Kruzianer jetzt unterschiedliche Positionen zu diesen Dingen ein. Was diejenigen, die mit dem Glauben nichts am Hut haben, leisten müssen, ist, trotzdem an den Dingen teilzunehmen und die entsprechende Haltung dazu zeigen. Wobei ich nie erwartet habe, dass jemand ein Glaubensbekenntnis spricht, wenn er damit persönlich nichts anfangen kann. Würde man so etwas verlangen, würde man die Basis, aus der man Nachwuchs in den Kreuzchor nachziehen könnten, deutlich verkleinern. Hatten Sie dieses Verständnis der Religionsfrage auch schon, als Sie 1997 anfingen? Ja. Was Glaubensdinge angeht, war ich nie dogmatisch. So wie ich es sehe, muss der Leiter seine Überzeugung vorleben können und ansonsten behutsam versuchen, diejenigen anzunehmen, die anders darüber denken. Denn es bleibt beim Kreuzchor – jenseits vom Thema Religion – so viel Gutes, was man den jungen Menschen nahebringen kann. Da ist man nicht darauf angewiesen, dogmatisch irgendwelche Glaubensregeln zu befolgen. Welche Rolle spielt die Religionsfrage denn bei der Vermittlung des gesungenen Repertoires, das ja zu ca. 90 Prozent aus geistlichen Texte besteht? Das Schöne ist, dass die Musik per se eine starke Kraft hat und direkt in die Seelen hineingeht. Natürlich muss man die Texte auch erläutern. Es gibt ja darunter welche, wie etwa Psalm 137, „An Wasserflüssen Babylon“, wo „Kinder am Stein zerschmettert“ werden usw. wo man die Zusammenhänge erläutern muss: dass es Texte sind aus vorchristlicher Zeit – die aber leider nichts an ihrer Aktualität verloren haben. Wenn man sich dabei keine Mühe gibt, merken das die Jungs, sie sind unzufrieden, wenn sie inhaltlich kein Futter kriegen. Die recherchieren dann selber? Ja, das geschieht hin und wieder, auch über das Handy, wenn ein Junge kurzfristig eine Frage hat, holt er sich die Antwort mitunter auch aus dem Netz. Selbst wenn die Handynutzung in den Chorproben nicht erlaubt ist. Man darf das Handy mit in den Probensaal nehmen, aber nicht benutzen. Genau. Aber ich erlebte natürlich auch, dass es in Chorproben trotzdem benutzt wird. Als Sie als Kreuzkantor anfingen, hatten Kinder noch keine Handys. Wie haben Sie diese Entwicklung erlebt? Das war eine pädagogische Herausforderung, auch für das Personal im Alumnat. Am Anfang haben wir die Handys auf Reisen verboten, bis wir gemerkt haben, dass das nicht geht. Eltern hatten jetzt nun mal den Anspruch, Tag und Nacht mit ihren Kindern in Kontakt treten zu können, das konnte man ihnen nicht verbieten. Also durften die Handys auf Reisen mitgenommen werden, was mitunter zu komischen Situationen führte. Auf einer Asien-Reise riefen Knaben zuhause an und sagten, es gäbe nichts zu essen – weil vom übervollen asiatischen Buffet die Spaghetti zu schnell weg waren. Woraufhin die besorgten Eltern sofort bei den mitreisenden Erziehern anriefen. Aber es hat sich mit der Zeit eingependelt. Heute gilt vor einem Konzert: Sobald man den Konzertanzug anhat, bleibt das Handy aus. Wie groß ist das Problem der Ablenkung durch die elektronischen Geräte? Als Chorleiter – das haben mir auch andere Knabenchordirigenten berichtet – merkt man, dass durch den Handygebrauch die Konzentrationsfähigkeit nachgelassen hat. Die Ausdauer generell lässt nach, bei manchen auch die körperliche Physis, weil sie ihre freie Zeit weniger nutzen, um rauszugehen, sondern sich stattdessen im Internet tummeln. Wie haben Sie versucht, auf diese Entwicklung zu reagieren? Wir haben bestimmte Beschränkungen ausgesprochen, aber viel mehr kann man nicht machen. Rigorose Verbote gehen heutzutage nicht mehr. Man kann versuchen, das heutige Kommunikationsverhalten in gewisse Bahnen zu zu lenken, aber Dinge komplett zu verbieten, funktioniert nicht. Werden die Knaben in Proben heute schneller hibbelig, sinkt die Aufmerksamkeitsspanne? Ich denke, sie sind, was die Konzentrationsfähigkeit angeht, nicht mehr so leistungsfähig wie vor 25 oder noch vor 20 Jahren. Sie schalten früher ab, weil sie darauf angewiesen sind, schnelle Reize zu bekommen – und das bietet nicht jede Chorprobe. Man kann nicht, während man mit den Altisten probt, gleichzeitig jeden Sopran bespaßen. Sondern die müssen dann einen Moment ruhig sein, aber trotzdem bei der Sache bleiben. Insgesamt sehe ich die Entwicklung aber in einem Rahmen, der noch nicht dramatisch ist. Doch für Ihre Arbeit war es zumindest beschwerlicher Naja, auf der anderen Seite kann man dann auch mal sagen: Jungs, auf Youtube gibt es ein Video, wo dieses oder jenes Werk hervorragend abgebildet ist, schaut euch das mal an! Da habe ich häufiger Hinweise gegeben und einige haben sich das angeschaut. Es gibt unter den Knaben wirklich viele, die wissbegierig sind und weiterkommen wollen. Das hat man dann auch sehr gut in der Corona-Zeit gemerkt. Ich habe gehört, dass es im ersten Jahr der Pandemie digitale Chorproben gab. Ja, über mehrere Monate. Ich saß dann in meinem Büro am Flügel und die Jungen am Bildschirm zuhause oder im Internat. In dem Moment wurde uns erst mal richtig klar, wie katastrophal in Deutschland die Versorgung mit stabilem, leistungsfähigem Internet ist. Ich habe während der Proben viele verzweifelte Eltern gesehen, die sich über den Computer beugten, während ich versuchte, mit den Jungs zu singen. Musikalisch war das schlimm, ich habe es gehasst, diese Proben. Andererseits hatte es aber auch zur Folge, dass mein Assistent Wolfgang Behrend und ich im Laufe einer Woche mit allen Knaben mindestens einmal gearbeitet haben. Das war für die Anbindung wichtig. Die Jungs haben während der Corona-Zeit auch untereinander viel über das Netz kommuniziert, Zwölftklässer haben sich dann zum Beispiel mit den Knaben aus der 5. Klasse zusammengeschaltet und sich ausgetauscht. Das hat gut funktioniert und sicher auch dazu beigetragen, dass in der Zeit der Pandemie niemand abgesprungen ist. Wie haben Sie die ersten Auftritte erlebt, als die Auflagen wieder gelockert wurden? Als wir wieder richtig loslegen konnten, war dieses gemeinsame Musikerleben ungeheuer. Das habe ich in den Jahren vorher so nie erlebt, denn vor Corona betrachtete jeder das gemeinsame Singen als eine Selbstverständlichkeit. Jetzt merkte man, dass das bei allen ein sehr tief verwurzeltes Bedürfnis ist, da war eine solche Sehnsucht, eine solche tiefe seelische Bewegung, die plötzlich hervorkam. Davon war eigentlich das gesamte letzte Jahr meiner Amtszeit geprägt. Diese Sehnsucht gab es sicher genauso beim Publikum Ja, man hat gemerkt, wie viel es den Leuten bedeutet hat, selbst wenn wir aufgrund von Beschränkungen noch gar nichts Großartiges anbieten konnten und zum Beispiel Vespern in stark verkleinerter Besetzung gesungen haben. Wir konnten ja lange Zeit nicht in der großen Besetzung proben. Das Internat war geöffnet, aber die verschiedenen Klassenstufen durften sich nicht begegnen, weshalb jede Klasse einzeln proben musste und in der Vesper auch separat gesungen hat. Das war musikalisch nicht alles erstrangig, aber es war zumindest etwas los, man hat sich gegenseitig wahrgenommen. Und im Übrigen war die Arbeit in kleinen Gruppen für den einzelnen Kruzianer auch förderlich. Wie lang wirkte sich Corona auf den Konzertplan aus? Wir hatten im Januar 2022 die letzte Konzertabsage wegen Corona, ab Februar haben wir dann kontinuierlich arbeiten können, eine Matthäus-Passion und das gesamte Osterprogramm machen können. Frustrierend war im Dezember 2021 eine Absage in Berlin. Wir waren dort in kleiner Besetzung, machten jeden Tag PCR-Tests, hatten eine wunderbare Probe mit dem Konzerthausorchester, freuten uns auf die Aufführung am nächsten Tag – und dann wurde ein einziger Junge positiv getestet, woraufhin das Konzerthaus abgesagt hat. In Dresden haben wir Anfang 2022 auch eine in den Januar verschobene Aufführung des Weihnachtsoratoriums absagen müssen, weil unmittelbar vor dem Konzert 16 Kruzianer einen positiven Schnelltest hatten. Ein wichtiger Bestandteil der Choraktivitäten sind die Auftritte an Heilig Abend und am ersten Weihnachtsfeiertag. Wie hat man das in der Corona-Zeit gelöst? 2020 fielen sie ersatzlos aus, 2021 haben wir dann eine Christvesper und Christmette komplett aufgeführt, allerdings ohne Publikum. Wir haben sie auf Video aufgezeichnet. Das war auch wichtig für meinen Nachfolger, damit er sehen kann, wie der Stand der Dinge ist. Denn wenn man bei diesen Liturgien, wo wichtige Regieanweisungen immer von den Älteren an die Jüngeren weitergegeben werden, ein Jahr auslässt, dann fehlen im nächsten Jahr die erwachsenen Sänger, die wissen, wie es geht. Es war für die Jungs ein zutiefst befriedigendes Erlebnis, diese Dinge zu tun – auch wenn kein Publikum in der Kirche war. Haben Sie die Christmette denn zur sonst üblichen Zeit, morgens um 6 Uhr, aufgezeichnet? Nein, wir haben das zu einem Zeitpunkt gemacht, wo der Chor besser gesungen hat als morgens um sechs. Insofern war es nicht ganz originalgetreu. (lacht) Würden Sie sich heute eine Bewertung zutrauen, welche Corona-Maßnahmen sinnvoll waren, und welche sinnlos? Das ist schwer zu sagen. Sicher stand man manchen Maßnahmen kritisch gegenüber, doch ihren Wert kann ich letztendlich nicht wirklich beurteilen. Wir haben zumindest nicht mit Masken gesungen, was es im Laienbereich ja durchaus gegeben hat. Dass wir große Abstände halten mussten, hat die Probenarbeit teilweise erschwert, andererseits aber auch zu guten Ergebnissen geführt, weil der einzelne Kruzianer mehr gefordert war. Es gab CO2-Messgeräte in allen Proberäumen und Klassenzimmern, und ab einem bestimmten Schwellenwert musste gelüftet werden. Wer will sicher sagen, dass dies nützlich war oder nicht? Insgesamt hat man immer versucht, ein Höchstmaß an Sicherheit zu gewährleisten und gleichzeitig das Singen nicht aufzugeben. Als es mit Corona anfing, verbreitete sich ja schnell die Annahme, dass Singen und auch das Spielen von Blasinstrumenten das Gefährlichste überhaupt sind. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, könnte ich das jetzt ein bisschen relativieren: Ich stand in der Corona-Zeit immer wieder vor dem Chor, wurde von zig Kindern angeatmet und Sie waren nicht krank? Nein, ich habe keine Corona-Infektion bekommen. Man darf das natürlich nicht verallgemeinern, zumal es im Chor einige positive Fälle gab, manche machten die Infektion zwei Mal durch. Doch es hat bei keinem zu einer Hospitalisierung geführt, auch bei den Mitarbeitern nicht. Von denen waren welche mehrere Wochen krank, aber nicht lebensbedrohend. – Wobei man natürlich noch nicht weiß, ob und wie Long Covid noch für Probleme sorgt. Hat sich nach Corona der Zuspruch zur Kirche geändert, kamen mehr, oder kamen weniger Besucher? Nachdem wir wieder halbwegs Normalität hatten und in der Kreuzkirche die Zahl der Sitzplätze nicht mehr begrenzt war, hatte ich das Gefühl, dass der Zuspruch stärker wurde. Bei den Aufführungen der Matthäus-Passion 2022 zum Beispiel hatten wir mehr Besucher als vor Corona. Ein Grund dafür war sicher die Sehnsucht der Menschen nach diesem Ereignis, die brauchten das wieder, auch den Gottesdienstbesuch. In meinen ersten Jahren beim Kreuzchor kam es tatsächlich vor, dass wir bei Gottesdiensten mehr Sänger als Besucher waren. Die Zahl der Gottesdienstbesucher hat sich aber über die Jahre wieder etwas nach oben entwickelt und stabilisiert. Und die Konzerte des Kreuzchores sind gut besucht. Das heißt: Auch wenn heute weniger Leute religiös sind als vor 25 Jahren, bleibt der Chor – unabhängig vom kirchlichen Hintergrund – ein Magnet? Ja, es ist eben auch ein Kulturangebot. Das haben ja zu DDR-Zeiten genauso viele Leute wahrgenommen, die nicht gläubig waren, sondern die einfach diese großartigen Werke mit den Knabenstimmen hören wollten. Das war immer attraktiv und für mich deutet nichts darauf hin, dass sich daran etwas ändert. 2019 gab es eine Debatte zu der Frage, ob Mädchen – im Sinne der Gleichberechtigung – Zugang zu Knabenchören bekommen sollten. Wie haben Sie diese Debatte wahrgenommen? Diese Diskussion flammte auch bei uns kurzzeitig auf. Zum Beispiel kam eine Rechtsanwältin, die ihre Tochter im Kreuzchor unterbringen wollte, zu unserem Tag der offenen Tür, wo sie sich zu Wort meldete. War es eine breit getragene Diskussion? Nein, die wurde eher von wenigen angeschoben, die ihre eigenen Interessen vertreten haben – und die meiner Meinung nach viele Aspekte dabei nicht berücksichtigt haben. Ich bin zu dem Thema mehrfach interviewt worden, habe mich auch der Stadt gegenüber geäußert und einen kleinen Essay geschrieben. In Regensburg wurde 2022 bei den Domspatzen ein eigener Mädchenchor gegründet, inklusive Internat. Gab es diese Idee auch in Dresden? Wir haben so eine Idee mit der Kulturbürgermeisterin diskutiert, ja. Jeder Träger, jede Stadt muss schließlich prüfen, in welcher Situation sie ist. Ein Mädchen in Dresden, das singen will, kann zum Beispiel in einen Mädchenchor gehen, einen gemischten Jugendchor, in den philharmonischen Chor – da gibt es genug Möglichkeiten. Für eine dem Kreuzchor vergleichbare Institution, mit Internat und dieser Intensität der Ausbildung gibt es allerdings die Nachfrage gar nicht. Wenn es sie gibt, wäre es unter dem Aspekt der Bildungsgerechtigkeit theoretisch die Aufgabe der Stadt, für einen Mädchenchor ein Internat zu bauen, mit Schule in der Nähe, so etwas ist natürlich denkbar. Dagegen die Idee eines Mädchenchores am Kreuzgymnasium – dafür müsste man langwierige Verhandlungen führen, auch mit der Kirche. Das Thema ist komplexer, als es sich manche Eltern von Mädchen vermutlich vorstellen Ja, und die umgekehrte Frage wäre natürlich: Öffnet man Mädchenchöre dann genauso auch für Knaben? Ein Argument, welches für den Erhalt des Status Quo angeführt wird, ist der Klang Dazu gibt es auch viele Untersuchungen, Jungen und Mädchen unterscheiden sich im Lungenvolumen, in der Möglichkeit, Töne durchzuhalten, in der Durchschlagskraft – doch genauso gibt es Randbereiche und Ausnahmen: Mädchen, die wie Jungen klingen und umgekehrt. Man kann es also nicht pauschal sagen. Deswegen finde ich den Klang und die künstlerische Beurteilung – die beim späteren Gerichtsurteil in Berlin das Ausschlaggebende war – das am wenigsten tragfähige Argument. Was führen Sie in die Diskussion? Wenn man einen Jungen zum Singen bewegen will, gibt man ihm am besten ein Ensemble von Gleichaltrigen, wo er sich auch ein bisschen im Wettbewerb befindet, wie in einem Fußballclub. Das erreicht man weniger, wenn man ihn in einen gemischten Chor gibt, wo die Mädchen ohne Stimmbruch durchsingen, wo dann zum Beispiel ein elfjähriger Sopran umgeben ist von 14-jährigen Mädchen – das erhöht für Knaben nicht die Attraktivität, sich in diese Laufbahn zu begeben. Sprich, was bei Erwachsenen gemischt funktioniert funktioniert so bei Jugendlichen noch nicht. Darüber gibt es im Kreis der Knabenchorleiter auch ein hohes Maß an Übereinstimmung. Wir haben in Sachsen übrigens die Sondersituation, dass das sächsische Knabenchorwesen geschützt ist. Inwiefern geschützt? Das geht zurück auf einen Antrag der Stiftung der Dresdner Kapellknaben, in dessen Folge 2014 die deutsche Unesco-Kommission die sächsischen Knabenchöre in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen hat. Deswegen hat in Sachsen die Politik sogar eine Verpflichtung, das Knabenchorwesen zu schützen. Warum ist es schützenswert, Ihrer Meinung nach? Das schwächste Argument ist: die Tradition. Natürlich, es ist eine Tatsache, dass genau für diese Besetzung ein Großteil der abendländischen, geistlichen Chormusik komponiert worden ist, bis in die Romantik hinein, sprich, die Komponisten haben an Knabenstimmen gedacht. Das ist ein musikalisches Argument – welches ich aber nicht als besonders stark empfinde. Das für mich stärkste Argument ist die Erziehungsgemeinschaft von Knaben, in der man füreinander Verantwortung übernimmt, das hat in meinen Augen eine hohe gesellschaftliche Relevanz. Jungen in Knabenchören gehen mit ihren Energien anders um, sie verpulvern sie nicht einfach sinnlos. Sie werden anders geformt, sie lernen, über einen längeren Zeitraum Ziele zu verfolgen sowie in der Gemeinschaft Verantwortung für andere zu übernehmen. Klar ist eine Jungengemeinschaft nicht immer ein Paradies, aber insgesamt beobachten wir doch sehr gute Erfolge, die sonst eigentlich nur Sportvereine leisten, wenn sie gut geführt sind. Es geht also auch um Persönlichkeitsbildung? Persönlichkeitsbildung, aber eben auch Wertevermittlung in diesem speziellen Kreis von Jungen. Christliche Wertevermittlung? Im wesentlichen christliche Wertevermittlung. Aber bitte: Wo unterscheidet sich christliche Wertevermittlung von humanistischer? Klar, wir haben christliche Traditionen, diese Inhalte werden entsprechend vermittelt, aber es werden dazu keine Bekenntnisse eingefordert. Doch nun könnte die von Ihnen erwähnte Juristin sagen: Diese Werte werden genauso vermittelt, wenn auch Mädchen im Chor sind. Dann greifen die anderen Argumente. (lacht) Sicher bewegen wir uns da auf einem weiten Feld mit sehr vielen Argumentationssträngen. Ich habe in diesem Zusammenhang aber auch schon darauf hingewiesen, dass im Bereich der Koedukation viele andere, grundsätzliche Fragen von der Forschung längst nicht abschließend beantwortet sind. Sollte das irgendwann mal der Fall sein, können wir nochmal über Mädchen in Knabenchören reden. Nun mag das Knabenchorwesen geschützt sein, aber welche Rolle spielen Knabenchöre heute eigentlich noch im Klassik-Bereich? Sicher eine etwas kleinere Rolle als früher. Das gesamte Chorwesen hat sich mit der Entwicklung von Spezialensembles, kleinen Besetzungen mit professionell ausgebildeten Sängern, verändert, auch der CD-Markt. Die Knabenchöre befinden sich heute in einer Nische. Deswegen habe ich ja auch versucht, mit dem Chor eine gewisse Relevanz in der Stadtgesellschaft zu erreichen – unter anderem mit dem Stadionkonzert, worin am Anfang viele Leute den Untergang des Abendlandes sahen (lacht). Natürlich können Knabenchöre herrliche Dinge machen, aber wenn der Kreuzchor eine Schütz-Motette mit hundert Sängern aufführt, ist das weit entfernt von jeder historischen Aufführungspraxis – und damit in Augen von Puristen eigentlich gar nicht mehr gültig. Aber da geht es wiederum um den pädagogischen Ansatz: Ein Kruzianer soll in seinen zehn Chorjahren die gesamte Palette der Chormusik kennengelernt haben, von Gregorianik bis zur zeitgenössischen Moderne, im Wesentlichen geistliche Literatur, aber auch weltliche. Ich erinnere mich auch, dass es an der Stadionkonzert-Idee anfangs einige Kritik gab. Ich habe nie verstanden, warum man uns vorgeworfen hat, der Kreuzchor würde dadurch verweltlicht werden. Das Stadionkonzert ist eine Mischform, es wird die Weihnachtsgeschichte vorgetragen, es gibt Stücke aus dem klassischen Repertoire des Kreuzchors – und Weihnachtslieder aus der ganzen Welt, die wir in verschiedenen Arrangements singen. Da sind auch Stücke dabei, die mit Weihnachten nichts zu tun haben, wie „Jingle Bells“, die aber eine eine Art Gefühligkeit vermitteln. Manche Leute lassen sich durch so etwas eben eher ansprechen als durch lutherisch geprägte Inhalte, die auf Weihnachten Bezug nehmen. Mir hat von den Kritikern auch niemand erklären können, was der große Unterschied sei, zwischen dem Stadion und anderen weltlichen Konzerten, wie sie der Chor etwa im Schlosspark Großsedlitz gegeben hat. Der Unterschied ist, dass der Chor mit dem Stadionkonzert wesentlich mehr Leute erreicht, mit der Fernsehübertragung ein Millionenpublikum. Ansonsten hat der Kreuzchor seine Auftritte im weltlichen Bereich reduziert, insbesondere in der Weihnachtszeit, um die Belastung der Jungs überschaubar zu halten. Aber gehen wir einmal gedanklich 25 Jahre zurück. Wenn ich als damaliger Chorist Sie gefragt hätte „können wir nicht mal gemeinsam mit Peter Maffay „Leise rieselt der Schnee“ singen?“, hätten Sie vermutlich geantwortet: So etwas kann doch der Kreuzchor nicht machen. Ja, so in etwa hätte ich das damals gesagt. Aber dann gab es über die Jahre eben bestimmte Entwicklungen: Zum Beispiel, dass wir keine klassischen CD-Aufnahmen mehr machen konnten, weil es keiner finanziert hat und die Jungs nicht mehr eine Woche lang schulfrei bekamen, um ins Studio zu gehen. Da fragt man sich natürlich: In welche Richtung entwickeln wir uns? Als dann 2016 das 800-jährige Jubiläum des Chores anstand, war die Frage: Wie setzen wir ein Signal? So entstand 2015 die Idee des Stadionkonzerts. Die war nicht von mir, sondern von Thomas Reiche, der damals Redakteur beim MDR war. Er hatte drei Söhne bei uns, war dem Chor dadurch sehr verbunden – und ich habe festgestellt, dass man von Medienmenschen durchaus etwas lernen kann. Beim ersten Mal hatten wir etwa 12.000 Zuschauer im Stadion – das fanden wir schon toll – und dann hat es sich entwickelt bis 25.000. Es ist ein erfolgreiches Format, das eben auch den Kruzianern viel Spaß macht. Viele, die es kritisiert haben, haben nicht wahrgenommen, dass sich an unserem klassischen Tun dadurch überhaupt nichts änderte – und sie haben vermutlich auch nicht gewusst, dass der Chor früher unter Martin Flämig zum Beispiel in der TV-Sendung „Ein Kessel Buntes“ Beatles-Songs gesungen hat. Hatte das Stadionkonzert denn auch wirtschaftliche Gründe? Längerfristig wollten wir uns mit so einem Format ein weiteres Standbein schaffen. Wir haben darüber viel diskutiert, dabei auch die Parole ausgegeben: Nicht Stadion statt Schütz, sondern Stadion damit Schütz. Sprich, man sichert mit so einem Event auch bestimmte Dinge im klassischen Bereich ab. Es war der Versuch, den gesamten, sich im Fluss befindlichen Parametern in den verschiedensten Bereichen Rechnung zu tragen. Dafür haben wir viel Prügel eingesteckt, aber wir haben eben auch etwas geschaffen, was für ein hohes Maß an Wahrnehmung gesorgt hat. Wie sieht es im Moment mit der Finanzierung durch die Stadt aus? Inzwischen bekommt der Chor wieder so viel wie vor der Corona-Krise und ist heute personell gut aufgestellt. Es gab aber auch Zeiten, wo sie uns so radikal runtergekürzt haben, dass fast schon unsere Arbeitsfähigkeit infrage stand. Wo Personal hätte abgebaut werden müssen? Wenn die Stadt nicht reagiert hätte – ja. Ich hatte manchmal den Eindruck, dass auf Seiten der Stadt Dinge beschlossen wurden, ohne dass den Verantwortlichen die tatsächlichen Zusammenhänge bekannt waren. Einmal hat der Stadtrat faktisch die Schließung des Kreuzchores beschlossen, ohne es zu wissen. Durch Sparbeschlüsse gerieten wir in Unterfinanzierung, zeitgleich hatte der Bürgermeister einen Einstellungsstopp verhängt. Wir brauchten aber eine neue Internatsleitung. Die hätten wir nun aus unserem Etat finanzieren müssen, der aber nichts mehr hergegeben hat. Wie haben Sie reagiert? Wir sind in zivil aufgetreten, da wir jeden Cent, auch den für Reinigung der Kleidung, einsparen mussten. Der Chor hat dann damals, Anfang 2003, den zweiten Teil des Weihnachtsoratoriums in Zivilkleidung gesungen. Das führte zu einem riesigen Aufstand, viele Konzertbesucher dachten, ich spinne, weil sie nicht wussten, worum es geht. Es folgte eine Intendantenrunde, der damalige Oberbürgermeister Roßberg war stinksauer, bis man ihm die Zusammenhänge erklärt hat – und dann hat er umgehend für alle Kultureinrichtungen die Haushaltssperren aufgelöst. Das war vielleicht einer meiner größten Erfolge auf politischer Ebene. Welche finanziellen Mittel bekommt der Chor von der Kirche? Die sächsische Landeskirche finanziert die Stelle unserer Nachwuchsmitarbeiterin und die Auftritte in der Kreuzkirche werden honoriert, wenngleich mit Entgelten, die nicht an marktübliche Konzerthonorare heranreichen. Der Hauptträger ist die Stadt und darüber war ich sehr froh, bei allen Schwierigkeiten die es gab. Ende der 90er Jahre ist der Chor noch mit einer 80-Mann-Besetzung auf internationale Reisen gegangen. Wie hat sich das verändert? Mit 80 Sängern reist der Chor heute nicht mehr ins Ausland. Der Markt gibt das schlicht nicht mehr her, viele Konkurrenzensembles sind mit weniger Sängern unterwegs, es fehlen Sponsoren und vielerorts ist einfach nicht mehr so viel Geld für Kultur da. Bei meinen letzten Asien-Reisen mit Orchester waren es 69 Sänger, es gab aber auch A-Capella-Tourneen nach China oder Japan, wo wir nur mit 36 Sängern unterwegs waren. Wobei ein anderer Teil des Chores dann zeitgleich mit 40 Sängern in Norwegen oder Dänemark Konzerte gab. Bei anderen Knabenchören, wie dem Tölzer Knabenchor, gehört es zum Geschäftsmodell, dass Knaben als Solisten ausgebildet werden, etwa für Opernaufführungen. Wäre das auch beim Kreuzchor denkbar? Nein, so eine Diversifizierung wollten wir nie. Da funktioniert der Tölzer Knabenchor etwas anders. Es ist schön, wenn Kruzianer in Dresden gelegentlich in der „Zauberflöte“ oder „Tosca“ singen, ansonsten sollte aber immer der Gesamtchor im Mittelpunkt stehen. Wie hoch ist im Moment die Gesamtchorstärke? 2022 waren es 141 Sänger. Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten kommen Jungen heute früher in den Stimmbruch. Hat sich diese Altersschwelle noch weiter gesenkt? Nein. Wir hatten 2022 auch noch Jungs aus der neunten Klasse im Knabenchor. Die Befürchtung, dass es sich immer weiter absenkt, hat sich nicht bewahrheitet. Ihr Vorgänger Gothart Stier musste den Chor nach nur drei Jahren im Amt verlassen, Kritik kam damals auch aus dem Chor bzw. dem engen Umfeld. Hätte Sie so ein Schicksal auch fast ereilt? Nein, da sehe ich keine Situation. Wir hatten immer mal Krisen, auch mit der 12. Klasse – wobei ich natürlich immer voll im Recht war. (lacht) 2017 gab es einen offenen Brief von ehemaligen Kruzianern, mit deutlicher Kritik. Richtig, auf den habe ich sofort geantwortet. Viele von denjenigen, die ihn unterschrieben haben, wussten nicht, worum es eigentlich geht. Es gab den Vorwurf der Verweltlichung – wo ich dann nachgewiesen habe, dass da nichts dran ist. Da schreibt der eine vom anderen ab, dann geht es durch die Presse Es haben sich auch welche daran gestört, dass die Hauptfeier zum Chor-Jubiläum in der Semperoper stattfand – nun, das war das Protokoll der Stadt, die Kreuzkirche bot für so einen Empfang nicht die Möglichkeit. Übrigens hat niemand bemerkt, dass ich diese Feier wie einen Gottesdienst gestaltet habe. – Also, man hat verrückte Dinge erlebt. Im Brief wurde die Sorge geäußert, dass „Grundwerte des Chores“ durch ein „betriebswirtschaftliches Verständnis“ in Mitleidenschaft gezogen werden können. Das schreiben nur Leute, die keine Ahnung haben. Aber davon gab es genug. Es wurden nur Meinungen transportiert. Ich habe auf diesen Brief sofort und ausführlich geantwortet und den Jungs, die das verbreitet haben, gesagt, dass ich Wert darauf lege, dass meine Replik in den gleichen Kanälen ebenfalls veröffentlicht wird. Das geschah dann aber leider nicht. Wie war denn Ihre Replik zu dem Vorwurf, Sie hätten Kruzianer zu viel belastet? Zu viel belastet haben wir sie eigentlich nie. Was ich aber rückblickend feststelle: Kommunikativ waren wir nicht gut. Bei manchen Themen hätten wir vorbauen können oder schneller argumentativ reagieren müssen. Manche Entwicklungen hat man nicht richtig eingeschätzt. Etwa, als während einer China-Tournee ein Shitstorm über uns hereinbrach. Das war für uns eine völlig neue Erfahrung. Sie meinen 2013, als sich Kritik daran entzündete, dass der Chor in China das Volkslied „Die Gedanken sind frei“ nicht gesungen hat Ja, mein damaliger Assistent Peter Kopp war mit einem Teil des Chores in China und plötzlich gab es Kritik, weil „Die Gedanken sind frei“ nicht auf dem Programm stand. Ein Reporter hatte diese Geschichte von der Zensur erfunden, damit war das in der Welt und unsere Versuche, dagegen zu argumentieren waren völlig hoffnungslos. Damals haben sich auch einige Leute – bis hin zum Deutschen Musikrat – blamiert, weil sie dieser falschen Geschichte aufsaßen. Der Chor hatte also gar nicht vorgehabt, „Die Gedanken sind frei“ zu singen? Nein, das war nicht geplant. Ein Reporter hatte Peter Kopp gefragt, ob dieses eine Stück gesungen wird, und als er verneinte, hat der Reporter daraus die Geschichte gemacht, die chinesische Zensur sei dafür verantwortlich. Gibt es denn Dinge, die man bei der Werkauswahl beachten muss, wenn man nach China fährt? Es gab bei einer China-Reise eine Stadt, wo gerade ein Parteikongress stattfand. Dort wurden wir gebeten, dass wir in unser abendliches Programm nichts Geistliches mit hineinnehmen. Das habe ich dann auch so gemacht. Wir singen auch in Deutschland oft rein weltliche Programme, insofern mussten wir uns dafür nicht verbiegen. Sie haben sich nicht schwer getan mit dieser Entscheidung? Nein, weil wir auf solchen Tourneen sowieso meist zur Hälfte weltliches Programm gesungen haben. In dem Moment hieß es Seid vorsichtig, denn auch die dortige Konzertagentur hat ja ein Interesse daran, weiterhin mit westlichen Ensembles Konzerte zu veranstalten. Der Sächsischen Zeitung sagten Sie 2013, Sie wollten den Chor „nicht für politische Demonstrationen missbrauchen“. Ja, das ist der richtige Ansatz. Wenn ich mich zum Beispiel gegen die AfD geäußert habe, habe ich mich immer als Privatperson geäußert, nicht als Kreuzkantor. Für die politischen Dinge sind die Politiker zuständig, warum sollen Wirtschaftskontakte gepflegt werden mit allen möglichen autoritären Systemen – aber wir als Kulturträger müssen dann die Flagge hochziehen und sagen Jetzt zeigen wir euch mal, was hier eine richtige Aussage ist? Aber ist das nicht gerade doch die Funktion von Kultur, gerade weil zum Beispiel die Wirtschaft es nicht macht? Nein. Dafür sind wir a) zu klein, zu unwichtig und b) will ich die Kinder nicht instrumentalisieren. Die sollten nicht demonstrativ eine als politisch zu wertende Aussagen tätigen. Aber abgesehen vom Alter: Kultur ist doch oftmals in Erscheinung getreten, um in autoritär regierten Ländern Dinge zu artikulieren Warum soll die Kultur die Dinge ausgleichen, die die Wirtschaft und die Politik nicht schaffen? Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir bringen unsere Kultur, zeigen sie im Ausland und schaffen damit Beziehungen zwischen Menschen. Dabei müssen wir aber nicht ideologisieren, auf keinen Fall. Machen wir in Deutschland ja auch nicht. Es geht auch darum, Kontakte so zu pflegen, dass der Kreuzchor weiterhin Auslandsreisen hat. Klar, wir hätten uns jetzt auch in den Probensaal setzen und sagen können: „Boah, denen in China haben wirs aber gezeigt. Jetzt reisen wir zwar nimmer dorthin und dort ändert sich auch nix – aber wir haben Stellung bezogen.“ Gab es im Zuge politischer Veränderungen in Sachsen die Versuchung, dass der Chor politisch Stellung bezieht? Wurden diesbezüglich Wünsche an den Chor herangetragen? Kaum. Wenn, dann haben wir uns als Dresdner Intendantenrunde positioniert, aber den Chor selbst habe ich dabei rausgelassen. Im September 2021 haben wir mit anderen Chören anlässlich der Eröffnung der Dresdner Vermeer-Austellung auf dem Theaterplatz gesungen. Angela Merkel eröffnete die Ausstellung, weshalb viele Demonstranten auf dem Theaterplatz nur darauf warteten, sie niederzupfeiffen. Dort sind wir aufgetreten – und das auch ganz bewusst als Vertreter des Systems. (lacht) Die Politische Veränderung in Sachsen, hat Sie die nie besorgt? Als Sie als Kantor antraten, existierte die AfD ja noch nicht Ich erinnere mich noch, wie ich im ersten Jahr von Pegida mit dem Taxi an so einer Demonstration vorbeifuhr. Der Taxifahrer erklärte mir die Abkürzung und ich dachte nur: „Islamisierung des Abendlandes“? – Was ist das für ein Quatsch?! Ich habe darin keine Bedrohung gesehen, weil ich dachte, so blöd kann man nicht sein, als dass sich so ein Unsinn festsetzt. Heute befürchten einige, dass durch die neuen Notsituationen, Inflation etc., die radikalen Kräfte zunehmen. Dazu gehöre ich aber nicht. Ich glaube, dass die demokratischen Kräfte in Deutschland stark genug sind, als dass von dort wirkliche Gefahr droht. In Sachsen wählt inzwischen ein Viertel der Bevölkerung die AfD. Das wird man auch in Striesen gespürt haben, oder? Meine Meinung zu diesen Fragen kannten innerhalb des Chores immer alle. Da habe ich kein Blatt vor den Mund genommen – und nie Widerspruch erlebt. Könnte man vereinfacht sagen, AfD-Wähler schicken ihre Kinder erst gar nicht in den Kreuzchor? Es gibt sicher Sänger, die da beeinflusst sind, aber ob die sich dann äußern würden in der Chorgemeinschaft? Ich habe meine Meinung dazu im Chor offen kundgetan, beim ein oder anderen mag das etwas bewirkt haben, bei anderen vielleicht nicht. Einige Diskussionen und Schwierigkeiten gab es dann in der Corona-Zeit, weil wir natürlich auch Impfverweigerer und Impfgegner hatten, innerhalb des Chores bzw. bei den Eltern. Welche Lösungen hat man gefunden? Keine. Unsere Regeln mussten gelten. Es mussten sich nicht alle impfen lassen, aber Masken in den Gängen usw., das musste sein. Es wurde aber niemand aus dem Chor ausgeschlossen. Nein. So weit ging es nicht, denn so hartnäckige Verweigerer gab es nicht. Die Eltern haben sich zwar teilweise sehr scharf gegenüber mir und der Schulleitung geäußert, aber das führte nicht zu Konsequenzen. Im Chor gibt es bei bestimmten Vergehen Disziplinarmittel, wie etwa der Ausschluss von Konzerten bzw. Konzertreisen. Hat man hier in den letzten Jahren Veränderungen vorgenommen? Ausschluss von Reisen gab es, etwa als Sänger der 12. Klasse geschwänzt haben, aber sagten, sie wären krank. Diese Maßnahme als Ultima Ratio kam schon immer mal wieder vor. Ansonsten hat sich im Laufe der 25 Jahre schon sehr viel verändert. Als ich antrat, waren Strafen noch sehr viel pauschaler. Klauen bedeutete immer einen Ausschluss aus dem Chor, selbst wenn es nur ein Kaugummi war. Heute wird in jedem Fall eine Einzelfallprüfung gemacht und das teilweise auch ziemlich aufwendig. Der Chor verändert sich, aber einmal anders gefragt: Wie hat der Chor Sie verändert? Nur zum Positiven. Wenn man jeden Tag mit Kindern zu tun hat, hält einen das tatsächlich wach, lebendig und jung. Und dann verändert es – wenn man es eine Zeit lang macht – das Bewusstsein, wenn man begreift, dass man seine Lebensaufgabe gefunden hat. Bei allen anstrengenden Dingen und Schwierigkeiten, die dazugehörten: für mich war es eine Lebensaufgabe und aus meiner Sicht bin ich dieser Aufgabe auch absolut gerecht geworden. Ich habe Gutes tun können, sowohl im musikalischen Bereich, als auch was den Weg betrifft, den junge Menschen gehen. Erziehen bedeutet für mich letztendlich vorleben und ich denke schon, dass mir in diesem Punkt Vieles geglückt ist. Dieser Umstand hat, glaube ich, meine Persönlichkeit stabilisiert. Und mein Wahrnehmungsspektrum hat sich natürlich erweitert, auch das Problembewusstsein, durch das Beobachten anderer Menschen mit ihren Schwierigkeiten. Ihr Blick auf die junge Generation hat sich geschärft? Ja, aber es betraf auch meinen Blick auf die Erwachsenen. Je länger ich beim Kreuzchor war, desto mehr habe ich in Erwachsenen die Kinder erkannt, die sie mal waren – weil der Mensch sich ja ab einem bestimmten Alter kaum mehr verändert. Und dann erlebt man ältere Menschen in bestimmten Lebenssituationen und denkt: Da sehe ich jetzt das Kind, das verletzt ist, oder zum Beispiel das sich freuende Kind. Gab es bei Ihren letzten Konzerten mit dem Kreuzchor ein bestimmtes Werk, welches Sie aufs Programm gesetzt haben, weil es Ihnen persönlich wichtig war? Nur in meiner Verabschiedungsvesper, „Herr, auf dich traue ich“ von Schütz. Dieses Stück stand auch vor 25 Jahren in meiner Einsegnungsvesper auf dem Programm. Damit hat sich nochmal schön der Kreis geschlossen – und es ist eine Aussage darüber, unter welchem Stern mein Kantorrat eigentlich stand. Eine Aussage auch über Religiosität? Sicher, das auch. Ich bin konservativer, lutherischer Kantor. Sie sind kein Atheist geworden. Nein. Aber ich bin durchaus ein kritischer Gläubiger. Oder sagt man Glaubender? (lacht) Im Glauben verwurzelt. Ein kritischer Christ. Zu den prominentesten ehemaligen Kruzianern zählte Peter Schreier. Hat er sich manchmal gemeldet, angerufen, wenn er seine Meinung kund tun wollte? Angerufen hat er nicht, aber wir haben uns immer mal wieder getroffen, bei bestimmten Anlässen oder Konzerten. Und ich freue mich, von ihm immer ein hohes Lob gehört zu haben. Er gehörte also nicht zu denjenigen, die nach einem Stadionkonzert gemeckert haben. Nein. Dafür war er nicht der Typ, er schätzte so etwas eher, er war weltoffen und wusste auch, was man damit bewirken kann. Er war kein Kleingeist. Es mag sein, dass sich im Zusammenhang mit dem Stadionkonzert der ein oder andere Kleingeist auch geäußert hat. Da wäre ich jetzt neugierig Ich habe zum Stadionkonzert Briefe aus einer bestimmten Ecke bekommen, mit der Frage, warum so viele Texte auf Englisch wären und warum so viele „Neger“ mitsingen würden. Es waren ja farbige Sänger unter den Solisten bzw. beim Pariser Knabenchor, der mit uns gesungen hat. Da kam tatsächlich die Frage, warum das denn sein müsse. Schreibt man da zurück? Ich habe mich mit einem Briefschreiber mal drauf eingelassen, einem AfD-Funktionär aus einem kleinen Ort. Der hatte mir vorgeworfen, ich würde die deutsche Tradition nicht ehren, auch weil ich in der amerikanischen Zone aufgewachsen und sozialisiert sei. Ich habe ihm dann erklärt, dass das etwas anders zu sehen ist, was es mit meiner Verwurzelung auf sich hat und mit der Breite der Kultur. Und dass man gute amerikanische Musik mit guten amerikanischen Künstlern machen und gleichzeitig voll auf dem Boden der deutschen Musikkultur stehen kann. Er hat mir dann nochmal zurückgeschrieben aber in Harmonie aufgelöst hat es sich nicht. Das sind unversöhnliche Positionen. Für mich sind das Kleingeister und engstirnige Leute. Der Chor muss sich wandelnden Zeiten anpassen, sagten Sie zu Beginn. Könnten Sie das zum Schluss des Gesprächs noch einmal etwas ausführen? Das ist relativ einfach: Der Dresdner Kreuzchor ist ein lebendiges Ensemble, das aus wachen, jungen Leuten besteht, die in einer Gesellschaft groß werden, die Veränderungen unterworfen ist. Diesen Veränderungen kann er sich entweder verschließen und sich isolieren, oder aber er ist demgegenüber offen und prüft: Welche Entwicklungen sind interessant und wertvoll für uns, welche gehen wir mit? Letzteres war im Grunde das Prinzip, an das ich mich in den 25 Jahren gehalten habe. Sicher gäbe es auch die Möglichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen, sich nicht zu öffnen, sondern streng bei alten Traditionen zu bleiben. Vielleicht würde das sogar ein Faszinosum entwickeln, eine Aura des Ewig Beständigen in einer sich täglich verändernden Welt. Das wäre dann vielleicht so etwas wie das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Ja, so in etwa. Für mich ist der Kreuzchor ein lebendiger Organismus. Und seine Aufgabe liegt nicht nur im Bereich der Musik, sondern auch im Sozialen. Denn es geht eben auch darum, was die Kruzianer nach ihrer Chorlaufbahn einmal in die Gesellschaft hineintragen. Was sie Gutes mitnehmen, was sie dann ausstrahlen und was sie nachfolgenden Generationen vorleben können.

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