Viele Bilder sind unscharf. Verschleiert trifft es in diesem Fall wörtlich. Die trüben Videos wurden unter Niqab und Abaya von einer Frau gefilmt, die in Susanne Regina Meures‘ bei der 70. Berlinale gezeigten Dokumentation „Saudi Runaway“ Muna heißt. Sie ist 26 Jahre alt und lebt in Jeddah. Ihre nach der arrangierten Ehe geplanten Flitterwochen in Abu Dhabi will sie nutzen, um zu fliehen. Ihr Leben in dem streng islamischen Königreich, die Vorbereitungen ihrer Flucht, die Heirat, den Flug in die Flitterwochen und die folgenden Ereignisse hält sie zwischen April und Juni 2019 heimlich mit zwei Smartphones fest. Weite Teile des Films, der beim Sundance Film Festival in den USA uraufgeführt wurde, spielen in einer kleinen Wohnung. Denn die kann Muna allein nicht verlassen, selbst zum nahen Supermarkt darf sie nur in männlicher Begleitung gehen. Einen Haustürschlüssel haben weder sie noch ihre Mutter oder Schwestern. „Ich bin so froh, dass ich kein Mädchen bin“, kommentiert Munas kleiner Bruder Eyad. Wenn die Handykamera das vergitterte Fenster und den Balkon streift, ist das Gefühl des Eingesperrtseins der Protagonistin spürbar. Muna droht sogar lebenslänglich. Sie hat mitbekommen, dass weder ihr Vater noch ihr unbekannter Ehemann der Verlängerung ihres Ende 2019 auslaufenden Reisepasses zugestimmt haben. Mutter und Großmutter wiegeln ihre Sorgen deswegen ab: Sei gehorsam und bete, dann wird alles gut. Und: Die Männer heute sind anders. Tatsächlich wirkt Munas Mann in den wenigen Szenen, in denen er zu sehen ist, freundlich, höflich, rücksichtsvoll. Und der Alltag in Jeddah ist nicht so freudlos, wie der Zuschauer es vielleicht erwartet hat. Das ändert indes nichts an Munas Gefühl, im konservativsten Land der Welt der Chance beraubt zu sein, ein freies und unkontrolliertes Leben zu führen. Jedes Jahr fliehen rund 1.000 junge Frauen aus dem wahhabitischen Wüstenstaat. Ängste, Zweifel und Gewissenskonflikte Muna recherchiert: Will sie Saudi-Arabien von Abu Dhabi aus via Weißrussland verlassen, muss ihr Pass noch sechs Monate lang gültig sein. Damit bleiben ihr nur wenige Tage für die nächtliche Flucht aus dem Hotel-Ehebett. „Saudi Runaway“ ist Dokumentation und Psychogramm einer unfassbar mutigen Frau zugleich. Der Film zeigt die islamische Welt hinter verschlossenen Türen, bildet aber auch Munas Ängste, Zweifel und Gewissenskonflikte ab, ihre Familie und alles hinter sich zu lassen. Immer fürchtet sie, bei ihren heimlichen Videos entdeckt zu werden. Und natürlich hat sie Angst vor den brutalen Konsequenzen, sollte sie am Flughafen gestoppt und zurückgeschickt werden. All das ist beeindruckend professionell in Szene gesetzt, obwohl die deutsche Regisseurin, die 2017 bereits die Dokumentation „Raving Iran“ bei der Berlinale zeigte, Muna das Handwerk von Grund auf erklären musste – angefangen dabei, das Smartphone zum Filmen quer zu halten, wie Meures bei der Vorstellung des Films in Berlin sagte. Protagonistin und Filmemacherin lernten sich im Netz kennen: Meures wollte für die Geschichte, die sie im Kopf hatte, eigentlich selbst nach Saudi-Arabien reisen, bekam aber kein Visum. Sie fand einen außerhalb des Landes lebenden saudischen Aktivisten, der Frauen bei der Flucht aus der Unterdrückung des Patriarchats unterstützte und in einer Chatgruppe mit rund 350 Frauen einen Post mit der Suchanfrage der Regisseurin veröffentlichte. 700 Seiten Material aus Chats Mehr als 30 Frauen antworteten, schließlich blieb Muna über als diejenige, die bereit war, das Projekt bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Intensive Briefings folgten: Bis zu sechs Stunden täglich chatteten die beiden Frauen miteinander, erklärte Meures Muna, was sie wie filmen solle. Ihre Aufnahmen schickte die 26-Jährige täglich per Upload der in der Schweiz lebenden Meures, danach löschte sie das Material sofort. Der Regisseurin gelang es, daraus einen bewegenden Film zu basteln. Aus den Chats entstanden zudem 700 Seiten schriftliches Material, das teils als Voiceover in die Dokumentation einfloss. Als es ernst wird, wird diese schließlich zum spannenden Thriller: wie Muna wartet, dass ihr Mann schläft, um ihren Pass aus seiner Tasche zu klauen, wie sie im Taxi zum Flughafen schwitzt, wie sie die dortigen Kontrollen passiert. Im weißrussischen Minsk, von wo aus es später weiter nach Frankfurt am Main gehen wird, treffen Regisseurin und Protagonistin schließlich das erste Mal persönlich aufeinander. Von ihrer Mutter hat Muna unterdessen schon einige Sprachnachrichten bekommen. Eine davon lautet: „Glaubst du wirklich, du kannst im Paradies leben und mich in der Hölle lassen?“ Bild: Christian Frei Filmproductions
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