Szenen eines bedrohlichen Wandels

Manchmal sind es die kleinen, eher zufälligen Beobachtungen, die auf ein größeres Bild verweisen, auf langfristige Tendenzen, bedrohliche Entwicklungen. Als ich jüngst nach längerer Zeit wieder einmal durch die Münchener Straße im Frankfurter Bahnhofsviertel ging, in der ich einst zehn Jahre gewohnt hatte, fühlte ich mich wie im falschen Film. Auch in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war die Straße, die den Hauptbahnhof mit dem Bankenviertel verbindet, ein wahrhaft multikultureller Ort gewesen. Es gab viele türkische Geschäfte, aber auch den deutschen „Feinkost Schenck" mit exquisitem Wildfleisch, einen spanischen Spezialitätenladen, ein bayerisches Bierlokal und den obligatorischen italienischen Eissalon. Ansonsten herrschte der übliche Trubel einer Großstadt mit Straßenbahngebimmel, Feuerwehrsirenen, eiligen Passanten und der ortstypischen Drogenszene. Inzwischen aber ist aus „Multikulti", auch wenn hier immer noch dreißig verschiedene Nationen ansässig sind, eher „Monokulti" geworden, ein türkisch-arabisch-islamisches Milieu mit ausgeprägter Macho-Kultur, massivem Männerüberschuss und drei Hinterhof-Moscheen, eine davon Teil der türkischen, Erdoğan-treuen ReligionsbehördeDİTİB. Ein Barbershop reiht sich an den anderen, Kebap-Buden und Fladenbrot-Bäckereien wechseln sich mit Sportwetten-Etablissements, Mobilfunk-Butzen und türkisch-arabischen Lokalen ab, an deren glatten Resopaltischen im fahlen Neonlicht überwiegend bärtige Herren sitzen. Keine Spur mehr von Spaghetti-Eis, Rehrücken aus der Rhön und spanischem Serrano-Schinken. Vielfalt war gestern. Frauen sind eine kaum sichtbare Minderheit, dafür stehen auf dem Bürgersteig immer wieder kleine Männergruppen beisammen. Mittendurch rattert die Straßenbahnlinie 11, in der, so berichten glaubwürdige Zeugen, Worte wie „Du Jude" und „Judensau" zum alltäglichen Vokabular zehn- und zwölfjähriger Schüler gehören. Ein eigener KosmosUnd plötzlich schießt mir unwillkürlich ein kleiner böser Gedanke durch den Kopf: Diese Straße, in der ich mich wohlgefühlt habe, obwohl sie nie eine Heimstatt biodeutscher Gemütlichkeit war, ist eigentlich schon gar nicht mehr Teil der Bundesrepublik Deutschland, jedenfalls so, wie wir sie kennen und schätzen. Sie gehört auch nicht zum bürgerlich-liberalen, inzwischen allerdings ziemlich grün, Lastenfahrrad-freundlich und „woke" gewordenen Frankfurt am Main, der ehrwürdigen Stadt deutscher Kaiserkrönungen, Geburtsort von Goethe, Ludwig Börne und Theodor W. Adorno. Auch das legendäre Frankfurter Raum-Zeit-Kontinuum der alten 68er-Hochburg von Joschka Fischer und Dany Cohn-Bendit, Hotspot der linken Frauenbewegung in den 1970er Jahren, entstammt einer anderen Galaxie. Ohne über empirische Belege zu verfügen ist zu vermuten, dass in der Münchener Straße auch kaum jemand den notorischen Reden von Bundespräsident Steinmeier an die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger" zur deutschen Staatsraison und den flammenden Aufrufen gegen Antisemitismus, für „Weltoffenheit" und „Zusammenhalt", folgen dürfte. Die fest in der politisch-medialen Meta-Blase gefangene Talkshow-Kultur à la Anne Will, Maybrit Illner und Markus Lanz gehört ebenso einer fremden Welt an, die hier nichts zu suchen hat. Man lebt im eigenen Kosmos und hat anderes zu tun. Es gibt viele solcher Straßen in Deutschland, ob in Duisburg oder Gelsenkirchen, in Dortmund oder Essen. Hier und da sind es ganze Straßenzüge, die zwischen Sozialghetto und religiöser Parallelgesellschaft changieren. Dort wird der säkulare Rechtsstaat bestenfalls ignoriert und schlimmstenfalls mit offener Verachtung und Aggressivität bedacht. „Der Sieg Allahs ist nah!"Berühmt-berüchtigt ist die Sonnenallee in Berlin-Neukölln, derzeit eine Art Mini-Gaza, wo sich Hummus auf Hamas reimt und wie an zahlreichen anderen Orten ein antiwestlicher, verschwörungstheoretisch aufgeladener Antisemitismus wütet, der jüngst auf einer Demonstration von mehreren tausend Essener Propheten eines künftigen Kalifats in Deutschland in der islamistischen Parole gipfelte: „Der Sieg Allahs ist nah!" Die – im Gegensatz zu den ukrainischen – äußerst spärlichen israelischen Flaggen im Land werden immer wieder heruntergerissen, zertrampelt oder verbrannt. Juden fühlen sich bedroht, die Kippa verschwindet unter dem Basecap. Man vermeidet bestimmte Themen, Orte und Begegnungen und erinnert sich vielleicht an Bertolt Brecht, der während der NS-Herrschaft schrieb: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!" Ein führender afghanischer Taliban tritt derweil völlig ungestört in der Kölner DİTİB-Moschee auf, und Kämpfe zwischen syrischen und libanesischen Clans finden inzwischen auf offener Straße statt. Beim Fußball-Länderspiel gegen die Türkei in Berlin herrschte bei der Übermacht von 50.000 türkischstämmigen Fußballfans eine Atmosphäre wie in Istanbul. Ein ehemaliger grüner Landtagsabgeordneter aus Hessen berichtete, dass ihn eine Zuschauerin im Olympiastadion, zwei Fahnen mit dem roten Halbmond schwenkend, wörtlich fragte: „Warum bist du so dumm und singst die deutsche Hymne?" Ein türkischer Fan ergänzte kongenial, man werde sowieso bald die „Mehrheit" sein. Hier wird schon mal provokativ die „Machtfrage" gestellt. Zitate, wie ausgedacht für die AfD, die davon profitieren wird. In den Schulen setzt sich all das fort. Was in bestimmten muslimischen Milieus gesagt und gedacht wird, vom täglichen Konsum türkischer und arabischer Fernsehsender wie Al-Dschasira befeuert, spiegelt sich in Schulklassen wider, wo Lehrer größte Schwierigkeiten haben, sachlich über den israelisch-palästinensischen Konflikt, die Hamas und die Rolle des Iran zu sprechen. Extrem heikel ist das Thema Holocaust, wenn schon Achtjährige die antisemitischen Sprüche ihrer Eltern im Unterricht zum Besten geben oder gar die Lehrkräfte körperlich attackieren. Ganz allgemein steigt die Gewaltkriminalität – laut einer Statistik des Bundeskriminalamts für das erste Halbjahr 2022 mit einer Zunahme bei nicht-deutschen Tatverdächtigen um 23 Prozent. Soweit wie in Frankreich, wo zwei Lehrer ermordet wurden, ist es freilich noch nicht. Vorerst sind es nur Puzzlesteine, die sich noch nicht zu einem flächendeckenden Gesamtbild fügen. Doch in Frankreich und Belgien, Holland und Schweden zeigt sich schon, dass ein gesellschaftliches – und politisches – Klima kippt, wenn es Großstadtquartiere und Kleinstädte in der Provinz gibt, in denen keine Frauen mehr in den Bars und Cafés zu sehen sind und ein breitbeiniger, bärtiger Machismo dominiert, dessen anachronistischer „Ehrbegriff" mit dem modernen Europa nichts zu tun hat. Wo „Integration" eine Leerformel istZu all dem kommen die nicht mehr zu leugnende Überforderung durch die illegale Zuwanderung und manifeste Fremdheitsgefühle, ja Ängste unter jenen, in deren Dörfern plötzlich mehrere hundert arabische und afrikanische Flüchtlinge auftauchen. „Integration" ist da nur noch eine Schimäre, eine wohlfeile Phrase, eine Leerformel der politischen Klasse, die mit dieser sozialen Realität überhaupt nicht konfrontiert wird außer in wohltemperierten „Townhall-Meetings" mit handverlesenen Bürgern. Was mein Frankfurter Aha-Erlebnis betrifft und die bange Frage, ob das Kind nicht schon in den Brunnen gefallen ist: Nach dem fünften Barbershop auf dreihundert Metern erinnerte ich mich unwillkürlich an Angela Merkels Satz, den sie auf dem Höhepunkt der Zuwanderungswelle von 2015 zum Besten gab. Bis heute gilt er als ihr politisches Vermächtnis und bleibendes Leitmotiv der – gerade wieder aufflammenden – Debatte über Migration und Integration: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Die Ansage von ganz oben war ein moralischer Schlag ins Kontor der empfindsamen deutschen Seele, und Zyniker wetteten schon darauf, ob und wann die Kanzlerin das unfreundliche Land der Täter verlassen würde. Es kam anders, sie blieb, und so wurde die „Willkommenskultur", das freundliche Gesicht der postnazistischen Deutschen, zum Maßstab aller Dinge. Unvergessen der leidenschaftliche Ausruf der Grünen-Politikerin Göring-Eckardt, heute Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland am Vorabend des 9. November 2015: „Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt!" Gut acht Jahre, einen Kanzler und drei Millionen meist illegal eingewanderte Flüchtlinge später stellt sich freilich die Frage: Doch was, wenn gerade das freundliche Gesicht am Ende dafür gesorgt hat, dass immer mehr Deutsche das nagende Gefühl plagt, es könnte irgendwann soweit sein, da sie selbst sagen: „Das ist nicht mehr mein Land."? Dabei handelt es sich nicht um durchgeknallte Reichsbürger, eingefleischte AfD-Fans oder Verschwörungstheoretiker, die vom großen „Bevölkerungstausch" reden, sondern um Menschen, die sich an ein berühmtes Zitat erinnern können: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Es stammt von Ernst Wolfgang Böckenförde (1930–2019), Staatsrechtler und Rechtsphilosoph, und ist so etwas wie die intellektuelle wie politische Existenzgrundlage der Republik jenseits aller politischen Tageskämpfe. Die Grundlagen des Staates bröckelnImmer wieder stellt sich die Frage, ob eine ausreichende Mehrheit der Bevölkerung diese Voraussetzungen einer demokratisch verfassten Republik mit Leben erfüllt und im Notfall verteidigt, darunter Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, freie Wahlen, Kunst- und Religionsfreiheit sowie den Anspruch jedes Individuums, sein eigenes privates Glück zu finden. Salman Rushdie, der ein halbes Leben lang von der Fatwa islamistischer Fanatiker bedroht wurde, hat kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die wichtigsten Zutaten der westlich-demokratischen Lebensweise auf ungleich poetischere Weise formuliert: „Küssen in der Öffentlichkeit, Schinken-Sandwiches, offener Streit, scharfe Klamotten, Kino, Musik, Gedankenfreiheit, Schönheit, Liebe." Genau darum geht es: nicht um die Verteidigung von Schweinsbraten und Knödel, Sauerkraut und Jägerzaun, altdeutsche Traditionen, die ihre verdienten Refugien schon bewahren werden, sondern um die liberale, freiheitlich-demokratische Gesellschaft insgesamt, die sich ihrer Stärken und Vorzüge bewusst ist und diese gegen jeden Angriff verteidigt, ob von links, rechts oder aus jenen migrantischen Milieus, die in autoritären, vordemokratischen Zeiten verharren, die sie fälschlich für die leuchtende Zukunft halten. Erst dann wird Deutschland mein Land, unser Land bleiben. Bis auf Weiteres aber dürfte das Unbehagen weiterwachsen und sich in entsprechenden Wahlergebnissen niederschlagen. Reinhard Mohr war bis 2004 Redakteur des „Spiegel" und bis 2010 Autor von „Spiegel Online". Er schreibt heute unter anderem für „Die Welt" und „Neue Zürcher Zeitung". Vor Kurzem erschien sein zusammen mit Henryk M. Broder verfasstes Buch „Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik" (EuropaVerlag).www.europa-verlag.com

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