Wütende Sehnsüchte nach ein bisschen Biedermeier

Die Deutschen glotzen immer so. Eigentlich sollte das gar nicht an den Anfang, aber erst neulich stand irgendwo, es war ein englischer Artikel, dass ein Vorurteil gegenüber Deutschen ebenjenes sei: Germans tend to stare. Und es stimmt wirklich. In der Londoner Tube sitzen oder stehen die Passagiere einander schließlich auch in einer unerwarteten Square Dance-Erwartungshaltung gegenüber (vgl. YouTube: „Square Dance mit Schwung“), es wird zaghaft intim, man kann sich riechen, auch wenn man das eigentlich nicht kann, und trotzdem sind meistens diejenigen, die glotzen, Touristen, und dann auch in den meisten Fällen Deutsche. Der Engländer ist geübt im sachlich-eleganten Ignorieren ohne zu schielen. Das ist das Ergebnis einer von der Autorin durchgeführten nicht-repräsentativen Studie (andersherum wäre es problematisch). Um den Fokus von mit Sicherheit sehr heiklen Diskursen, die einen Zusammenhang zwischen Nationalität und womöglich biologischen Eigenschaften herstellen, auf allgemeinere Themen zu lenken: was ist eigentlich mit dem öffentlichen und dem privaten Raum passiert? Zunächst sei festzustellen, dass alles räumlich ist, und dass man sich Raum auch ohne Zeit bzw. Räumlichkeit ohne Zeitlichkeit vorstellen kann. Diese Einsicht ist weder banal noch trivial, nein, sie ist genial, denn sie passt auf alles und genau diese universelle Passform macht sie so brillant. Wenn ich einen Brief schreibe, stelle ich mir den Adressaten oder die Adressatin vor mir vor, und „vor“ ist eine Präposition, also ist das räumlich, und wenn ich davon spreche, dass die Adressatin in meiner Gegenwart zu sein scheint, dann hat das nichts mit Zeit zu tun, aber warum das so ist, habe ich vergessen. Es wäre aber ein Desiderat, darauf zu beharren, dass dieses Briefeschreiben, oder Telefonieren, oder – da kommt ein Hauch Bohème – Dichten, bitte wieder Zuhause oder sonst wo in einem stillen Kämmerlein stattfindet. Stattfinden möge. Denn wenn man sich heutzutage in Cafés, in Bibliotheken, in Straßenbahnen, in Zügen umsieht, sieht man da überall ausgezogene Schuhe, Socken, ausgebreitete Schminkkästchen, geöffnete Taschen, in denen Tampons tanzen, Tupperdosen mit individuellen Vesperstullen und man hört, wer wieder die Klausur versemmelt hat und warum es eine gute Entscheidung war, ihn zu verlassen. Warum ist das so? Es reicht nun nicht mehr, nur den virtuellen Raum mit dem eigenen Gesicht in jeder Emotionsverzerrung zu tapezieren, man wendet sich mit vollem Körpereinsatz dem öffentlichen, echten, real erfahrbaren Raum zu, den man zwar mit anderen Menschen teilt, das aber scheinbar vergessen hat. Denn Ich ist ja das Zentrum. Folge davon ist, dass man die Grenzen zwischen dem eigenen Körper und dem fremden Körper irgendwie vergisst und das ist ja auch total schön und so, wenn die Leute nicht mehr so verklemmt sind, vor allem vielleicht die Deutschen, und Tuchfühlung zulassen. Dann setzt man sich eben in der Straßenbahn ganz nah an den oder die Nebensitzerin, auch wenn man sie nicht kennt, denn das ist doch gemütlich, und wenn die Nebensitzerin dann niest, dann macht sie das bestimmt nicht, weil sie etwas Unangenehmes riecht, sondern weil sie vielleicht eine Allergie hat. Und schon hat man etwas über einen Mitmenschen gelernt, ganz nebenbei, ganz intim, Community-Feeling. Vor allem aber muss es gemütlich sein, deshalb fläzt man sich vor allem in Cafés ja auch auf alles, was nicht bei Drei besetzt ist, das ist dann wie im eigenen Wohnzimmer, oder Quatsch, besser, wie im eigenen Bett, nur spannender, weil da Leute sind, die einem dann dabei zugucken, wie lässig man ist, eine Prise Voyeurismus, nur man selbst ist Voyé(e) und dadurch fühlt man sich selbst einfach noch lässiger und noch gemütlicher. Knutschende Pärchen in der Uni-Bibliothek denken, sie seien betörend und nicht störend. Ich finde das alles einfach zu aufdringlich und mich überfällt dieselbe Art von Scham, wie wenn ich an der Haltestelle eine Frau sehe, die hungrig über den frisch beim Metzger eingekauften Aufschnitt herfällt. Soll sie das doch machen, aber ich muss das nicht sehen. Wir haben ja Häuser und Wohnungen, zumindest viele von uns haben diesen Luxus und es wäre schön, wenn sich alles wieder ein wenig geordneter zutragen würde. Wir sind alle postmodern, wir haben sämtliche Binaritäten aufgebrochen, zumindest gedanklich und theoretisch, und das ist auch wirklich gut so, aber zwischen ‚Privatem’ und ‚Öffentlichem’ brauchen wir ein ‚versus’. Warum wird in den lautesten Tönen protestiert, wenn die Privatsphäre gebrochen wird, wenn zum Beispiel Telefongespräche abgehört und Mails gelesen werden und warum wird sie dauerhaft auto-attackiert, indem man sie dort ausstellt, wo sie nicht hingehört, im öffentlichen Raum? Unsere Privatsphäre, die private Unantastbarkeit, ganz wörtlich genommen, ist eine der letzten Bastionen, die uns einen privaten Teil unserer Identität gewährleistet. Ich sage nicht, dass wir im Privaten ‚sein können, wer wir sind’, weil ich nicht weiß, was das heißen soll, denn das ist ja schon lange dekonstruiert. Aber es ist sehr irritierend zu beobachten, wie leichtfüßig die Balance zwischen ‚privat’ und ‚öffentlich’ ins Wanken gebracht wird. Warum nimmt man an, Gemütlichkeit oder Gemütlichkeitsperformanz sei Authentizität? Kann ich nur authentisch sein, wenn ich in der Öffentlichkeit meine Schuhe ausziehe, Socken mit Löchern zum Vorschein treten und mir das egal ist? Die Antwort darauf habe ich in dem Moment beschlossen, in dem es mir peinlich war, vor über 20 Jahren von der Frau an der Wursttheke eine zusammengerollte Mortadella-Scheibe mit einem Smiley darauf in die Hand gedrückt zu bekommen, ungefragt. Jetzt gibt es kein Gurkenglas in der Nähe, unter das ich den Grund meiner Verärgerung schieben könnte, ich nehme dazu schriftlich Stellung, in meinem stillen Kämmerlein und nicht neben dir am Tisch im Café, während ich mir meine Fingernägel lackiere, sorry. TEXT: Heidi Liedke  ILLUSTRATION: Katrin Bauer

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