Stellungnahme zur Verlagerung der Zuständigkeit für Streitigkeiten im Kinder- und Jugendhilferecht auf die Sozialgerichte THEMAVerbleib des Kinder- und Jugendhilferechts bei den Verwaltungsgerichten AUTORDr. Robert Seegmüller (Vorsitzender) VERÖFFENTLICHT AM24. Juli 2023 DOWNLOAD ALS PDFBereits vor etwa 20 Jahren kam es zu einer weitreichenden Rechtswegverlagerung für Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialhilfe auf die Sozialgerichte, die einen nicht unerheblichen Systembruch bedeutete, dessen Notwendigkeit letztlich bis heute ohne überzeugende Begründung geblieben ist.¹ Aktuell entbrennt die Rechtswegfrage erneut im Hinblick auf das Kinder- und Jugendhilferecht.² Hintergrund ist, dass die Zuständigkeiten für Leistungen der Eingliederungshilfe an Kinder und Jugendliche mit Behinderungen nach dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) vom 3. Juni 20213 unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe im SGB VIII zusammengeführt werden sollen. Der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR), in dem 80 % der ca. 3000 aktiven Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter organisiert sind, tritt einer Verlagerung der Zuständigkeit für Streitigkeiten im Kinder- und Jugendhilferecht auf die Sozialgerichte entgegen! I. Nach der aktuell geltenden Gesetzeslage wird Eingliederungshilfe für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit einer (drohenden) seelischen Behinderung nach § 35a SGB VIII durch den Jugendhilfeträger gewährt. Bei Streitigkeiten ist der Weg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Besteht bei dem jungen Menschen dagegen eine körperliche oder geistige Behinderung bzw. ist er von einer solchen bedroht, ist vorrangig der Träger der Sozialhilfe bzw. der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX zur Hilfegewährung berufen. § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG normiert für derartige Streitigkeiten, für die originär nach § 40 VwGO ebenfalls der Verwaltungsrechtsweg eröffnet wäre, eine abdrängende Sonderzuweisung zu den Sozialgerichten. Durch das neue KJSG soll das Leistungssystem des SGB VIII dahingehend umgestaltet werden, dass eine individuelle, ganzheitliche Förderung aller Kinder und Jugendlichen ermöglicht wird. Der Entwicklungsdynamik und damit dem Spezifikum der Lebensphase „Kindheit und Jugend“ von jungen Menschen mit Behinderungen soll dadurch besser Rechnung getragen werden. Für den Prozess der Umsetzung dieses Ziels sieht das im Jahr 2021 verkündete Gesetz einen Zeitraum von insgesamt sieben Jahren vor. Der Prozess soll sich in drei Phasen im Sinne eines Stufenmodells vollziehen. Die erste Stufe sieht die Gestaltung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und die Bereinigung von bestehenden Schnittstellen vor. Diese Regelungen traten bereits im Juni 2021 in Kraft. Mit der zweiten Stufe soll im Jahr 2024 beim Jugendamt die Funktion eines „Verfahrenslotsen“ eingeführt werden. Die dritte Stufe sieht die Übernahme der vorrangigen Zuständigkeit des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe auch an junge Menschen mit (drohenden) körperlichen oder geistigen Behinderungen im Jahr 2028 vor. Die bisher in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorgesehene Aufspaltung der Zuständigkeit nach der Art der Behinderung für Leistun-gen der Eingliederungshilfe zwischen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII und der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX wird damit aufgegeben. Ab dem 1. Januar 2028 soll die Kinder- und Jugendhilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen, unabhängig von der Art ihrer Behinderung, zuständig sein. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass bis spätestens 1. Januar 2027 ein Bundesgesetz verkündet wird, das konkrete Regelungen vor allem zum leistungsberechtigten Personenkreis, zu Art und Umfang der Leistung, zum Verfahren und zur Kostenbeteiligung vorsieht. Sollte diese dritte Stufe in Kraft treten, würden durch die Vereinheitlichung der Rechtsgrundlage im SGB VIII und die Verlagerung der Zuständigkeit auf den Jugendhilfeträger für Eingliederungshilfen für junge Menschen unabhängig von der Art der (drohenden) Behinderung für Streitfälle in diesem Bereich ausschließlich die Verwaltungsgerichte zuständig sein. II. Dies hat in jüngerer Vergangenheit Anlass zu einer Diskussion über die Rechtswegzuweisung gegeben und zu einer angesichts des drohenden Bedeutungsverlustes verständlichen, in der Sache aber unberechtigten Forderung durch Vertreter der Sozialgerichtsbarkeit geführt, Verfahren betreffend die Eingliederungshilfe oder noch umfassender das gesamte Kinder- und Jugendhilferecht der Sozialgerichtsbarkeit zuzuweisen.³ Entsprechende Forderungen lassen gänzlich außer Acht, dass das steuerfinanzierte Sozialleistungsrecht eine typische Materie der allgemeinen Verwaltung und damit der Verwaltungsgerichtsbarkeit darstellt. Sie hat strukturell mit den beitragsfinanzierten Leistungen der Sozialversicherung, die die typische Materie der Sozialgerichtsbarkeit darstellen, nichts zu tun. Ein sachlicher Grund, diese Materie den Sozialgerichten dennoch zuzuweisen, besteht nicht. Vielmehr würde die Verlagerung von Streitigkeiten über die Gewährung von Eingliederungshilfe bzw. des gesamten Kinder- und Jugendhilferechts zu einem erneuten und vertieften Systembruch sowie einer sachlich nicht gerechtfertigten Aushöhlung der sachlichen Zuständigkeiten in der Verwaltungsgerichtsbarkeit führen. Die Verwaltungsgerichte verfügen über eine über die Jahre gewonnene enorme Expertise im Kinder- und Jugendhilferecht einschließlich der Eingliederungshilfe, die bei einer Verlagerung der Materie auf die Sozialgerichtsbarkeit verloren ginge. Von den Verwaltungsgerichten werden bereits aktuell nicht selten Verfahren entschieden, die eine umfassende Prüfung aller tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zur Gewährung von Eingliederungshilfe erfordern, wenn etwa nach § 14 SGB IX eine (unberechtigte) Weiterleitung von Leistungsanträgen an den Jugendhilfeträger erfolgt ist oder eine Weiterleitung von Anträgen seitens des Jugendhilfeträgers, obgleich eine körperliche oder geistige Behinderung des Antragstellers vorlag, unterlassen wurde. Überdies sind die Verwaltungsgerichte mit Verfahren auf Hilfe zur Erziehung betraut, die eng mit denen der Eingliederungshilfe verzahnt sind und zu einem weitreichenden Überblick über die Vielgestaltigkeit der Hilfebedarfe und Fragestellungen geführt haben. Vor diesem Hintergrund ist auch eine schnelle Einarbeitung in die durch die Gesetzesänderung hinzukommenden, nach dem Vorstehenden nicht unbekannten, Verfahrensgestaltungen gewährleistet. Die Sicherung der besonderen Fachkompetenz und die sachliche Ausgewogenheit der Entscheidungen werden im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zudem durch die Besetzung der Spruchkörper mit drei Berufsrichtern sichergestellt. Unabhängig von der Geltendmachung von Ansprüchen im Eil- oder Hauptsacheverfahren wirken bei den für die Beteiligten im Regelfall bedeutsamen Entscheidungen nach der gesetzlichen Konzeption – anders als im sozialgerichtlichen Verfahren – drei Berufsrichter mit. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kann der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen werden, was erforderlichenfalls eine Beschleunigung der Verfahren ermöglicht. Ferner sind die Verwaltungsgerichte mit der Arbeit, den Arbeitsabläufen sowie der Organisationsstruktur der zukünftig umfassend für die Gewährung von Eingliederungshilfe zuständig werdenden Jugendämter bereits vertraut, sodass auch auf dieser Basis eine zielgerichtete und zügige Bearbeitung der bedeutenden Anliegen sichergestellt bleibt. Auch der Umstand, dass Hilfen ab der Volljährigkeit des Leistungsempfängers – sollten die Voraussetzungen für eine Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII nicht vorliegen – vom Sozialhilfe- oder Rehabilitationsträger gewährt werden und die Ent-scheidung über solche Streitigkeiten weiterhin der Sozialgerichtsbarkeit obliegt, rechtfertigt jedenfalls keinen Übergang der vorstehenden Materie auf die Sozialgerichte. Denn insoweit verweist bereits die Gesetzesbegründung zum KJSG zutreffend auf die spezifischen Belange von Kindern und Jugendlichen mit einer (drohenden) Behinderung, die eine einheitliche Zuständigkeit für die Hilfegewährung erfordert.4 Da sich die Bedarfe und möglichen Hilfen für Volljährige in der Regel von denen Minderjähriger unterscheiden, ist eine Abgrenzung und damit auch Trennung der Gerichtsbarkeiten bei Streitfragen über die Hilfegewährung ab Eintritt der Volljährigkeit, wie bisher auch, regelmäßig ohne nennenswerte Schwierigkeiten möglich. Soweit für die Verlagerung der Rechtswegzuständigkeit auf die Sozialgerichte auf das besonders bürgerfreundlich ausgestaltete Verfahren abgestellt wird, ist zuzugestehen, dass das SGG Regelungen, wie etwa § 109 SGG, enthält, die den Verfahrensbeteiligten Vorteile bieten.5 Es ist jedoch nicht sachgerecht, die Frage der Rechtswegzuständigkeit von einzelnen Normen zur Verfahrensgestaltung abhängig zu machen. Dies gilt insbesondere im Verhältnis der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit, deren Gerichtsordnungen weitreichende Parallelen aufweisen (Gerichtskostenfreiheit in Verfahren des Sozialrechts, kein Anwaltszwang in der ersten Instanz) und in beiden Gerichtsordnungen Vorschriften zu finden sind, die für den jeweiligen Verfahrensbeteiligten Vor- oder Nachteile bringen. So ist etwa zugunsten der Beteiligten neben der dargestellten Besetzung des Spruchkörpers mit drei Berufsrichtern im verwaltungsgerichtli-chen Verfahren nach § 75 VwGO grundsätzlich bereits nach drei monatiger Untätigkeit einer Behörde das Erheben einer Untätigkeitsklage möglich, mit der die Verpflichtung des Hoheitsträgers erreicht werden kann; anders als im sozialgerichtlichen Verfahren, in dem § 88 SGG eine behördliche Untätigkeit von sechs Monaten für eine zulässige Klageerhebung voraussetzt und im Erfolgsfall nur ein Bescheidungstenor ergeht. Ein zwingender Grund für eine Rechtswegzuweisung zu den Sozialgerichten ergibt sich auch nicht aus dem Rechtsmittelrecht, das sich von dem für die Verwaltungsgerichtsbarkeit unterscheidet. Denn insoweit ist schon nicht ersichtlich, dass der in § 144 SGG niederschwelliger als in § 124 VwGO ausgestaltete Zugang zu einer Berufung für Verfahren der Eingliederungshilfe oder des Kinder- und Jugendhilferechts spezifisch geboten wäre. Im Gegenteil kann ebenso argumentiert werden, das in §§ 124 ff. VwGO geregelte System gewährleiste, dass nur die Verfahren in die höhere Instanz gelangen, die auch einer obergerichtlichen Klärung bedürfen und die Oberverwaltungsgerichte dadurch Ressourcen für zeitnahe Entscheidungen haben, die im Sinne der Beteiligten zügig Rechtssicherheit schaffen. Zusammenfassend wird man festhalten können, dass eine sachgerechte Bearbeitung der Verfahren beide Gerichtsordnungen gewährleisten. Einen sachlichen Grund für eine Verlagerung von Verfahren der Eingliederungshilfe oder gar des gesamten Kinder- und Jugendhilferechts auf die Sozialgerichtsbarkeit fördert jedoch die vergleichende Betrachtung der Gerichtsordnungen nicht zutage. Im Übrigen könnte der Gesetzgeber – soweit er es für sinnvoll oder erforderlich hielte, die Anwendung einzelner Regelungen des Sozialgerichtsgesetzes auch für jugendhilferechtliche (Eingliederungshilfe-)Verfahren vor den Verwaltungsgerichten vorzusehen – diese im Rahmen der bevorstehenden Gesetzesänderung in das SGB VIII aufnehmen. So wäre etwa die (automatische) Einbeziehung von Folgebescheiden in ein laufendes verwaltungsgerichtliches Klageverfahren ohne weiteres im Gesetz regelbar. III. In der Gesamtbetrachtung ist zu konstatieren, dass Verfahren der Eingliederungshilfe, insbesondere aber das Kinder- und Jugendhilferecht im Allgemeinen, welches in weiten Teilen klassische Eingriffs- (etwa die Inobhutnahme von Kindern § 42 SGB VIII) und Leistungsverwaltung darstellt, eine vertraute Materie der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist, für die eine langjährig bewährte Rechtstradition und besondere Expertise besteht, die einer Verlagerung der Verfahren auf eine andere Gerichtsbarkeit maßgeblich entgegenstehen. Berlin, den 24. Juli 2023 Dr. Robert Seegmüller (Vorsitzender) 1 BGBl. 2003 I 3022; BT-Drs 15/2260 2 Vgl. Kühl/Stölting, NZS 2023, 241 ff.; Schweigler, NZS 2023, 41 ff. 3 Vgl. Kühl/Stölting, NZS 2023, 241 ff. 4 BT-Drs. 19/26107, S. 3, 78 5 Vgl. Kühl/Stölting, NZS 2023, 241 ff.; Schweigler, NZS 2023, 41 ff.
Wo fliegen sie denn ? Wie viele und welche Bell UH-1D sind noch wo - in welchem Standort eingesetzt ? mfg Fred
zum Artikel gehenWelche Bedeutung die Mitarbeiterbindung hat und wie sie sich erkennen und steuern lässt. Mit möglichen Gründen zum Austritt oder Verbleib im Unternehmen und den relevanten Kennzahlen.
zum Artikel gehenist ein freier Tr ger der Kinder- und Jugendhilfe und bietet als Beratungsstelle in Hamburg seit vielen Jahren Unterst tzung und Informationen f r Kinder, Jugendliche und Eltern sowie Fortbildungen und Fachtagungen f r p dagogische Fachkr fte an. Wir arbe
zum Artikel gehenAutorenlesungen sind eine schöne Möglichkeit, bei Kindern Begeisterung für Bücher zu wecken. Ich lese regelmäßig für Kinder in Grundschulen, bei öffentlichen Lesungen und Online. Der Beitrag Autorenlesungen für Kinder erschien zuerst auf Alexandra Wagner
zum Artikel gehenEgal zu welcher Uhrzeit man bei uns in den Reitstall kommt es ist immer sehr viel los. Vor allem am Nachmittag ist die Stallgasse immer sehr voll. Viele Erwachsene reiten dann im Unterricht oder machen einen Ausritt. Andere lassen Ihre Kinder reiten. Aber
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