Autor: Heinz-Jürgen Althoff Medium: UNITEDINTERIM Blog Datum: 6.5.2019 In Gesprächen mit Nicht-Naturwissenschaftlern, z. B. Wirtschaftswissenschaftlern und Finanzspezialisten, habe ich bemerkt, wie wenig mein Text „Warum einen Ingenieur die Frage nach der Branche manchmal hadern lässt für sie nachvollziehbar ist. Ich möchte daher einmal die Denkweise des Ingenieurs an ganz einfachen Beispielen erklären – nicht zuletzt, um bessere Entscheidungen für die Besetzung offener Mandate und Positionen zu ermöglichen. Denn nicht immer ist der Experte die bessere Wahl, denn manchmal sind Übertragungen von Erfahrungen aus anderen Sparten der Technik zielführender als die Betriebsblindheit, die sich manchmal einstellt. Oder man wählt besser einen Generalisten, der die Technik zwar beherrscht, aber andere Aspekte der jeweiligen Aufgabe abdeckt. Nun zum Kern: Ingenieure befassen sich mit nichts anderem als der Anwendung physikalischer Gesetze zur Umsetzung praktischer Aufgaben wie der (kostengünstigen) Herstellung eines Autos oder einer Waschmaschine. Dazu bedienen sie sich der Mathematik, einer allgemeingültigen Sprache zur Beschreibung physikalischer Vorgänge. Mathematiker und andere, die die Mathematik als Krone der Wissenschaften sehen, mögen mir verzeihen: Das mag zutreffend sein, aber nicht für den Ingenieur. Dieser nutzt von der Mathematik nur die Anteile, die er als Werkzeug verwenden kann, um seine Aufgaben zu lösen. Das aber ist manchmal kompliziert genug! Zu Beginn setzt er die Beschreibung physikalischer Sachverhalte in Formeln um. Man denke nur an die aus dem Schulunterricht verhassten Textaufgaben, in der genau das gefordert wurde. Danach folgt mehr oder weniger kompliziertes Rechnen nach mathematischen Grundgesetzen und anschließend die Interpretation, d. h. die Rückübersetzung in Erkenntnisse bzw. konkrete Handlungsanweisungen. Einfaches Beispiel: Wie lange vor der gewünschten Ankunftszeit müssen Sie losfahren, wenn Sie 100 Kilometer weit mit 100 Stundenkilometern zurücklegen wollen? Sie ahnen es ohne Rechnen: Exakt eine Stunde. Die Formel dazu: v=s/t, umgestellt: t=s/v. In Zahlen: 100 km/100 km/h = 100/100 * km / km/h = 1 h. Sie müssen also eine Stunde früher losfahren als Sie ankommen möchten. Das also ist der ganze Trick! Man übersetzt jegliche Problemstellung in ein abstraktes, allgemeingültiges Modell, wendet Regeln an und interpretiert das Ergebnis. Natürlich ist es nun nicht so, dass der Ingenieur alles und jedes in Mathematik übersetzt: Das wäre viel zu umständlich. Er hat zunehmend genügend Erfahrung, um Technik, auch spartenfremde, zu erfassen, und zwar durchaus manchmal intuitiv. Er nutzt immer das gleiche Prinzip: Er setzt die Physik in ein Denkmodell um, wendet Regeln an und interpretiert das Ergebnis. Was hat das alles mit der Branche zu tun? Die technische Arbeit des Ingenieurs ist genau so branchenunabhängig wie das Vorgehen eines Finanzexperten, der eine Firma restrukturiert. Nicht die Branche und das verbundene spezielle Techniksegment sind der Schlüssel, sondern die Übertragung bekannter Regeln. Die Kunst besteht darin, das passende physikalische Modell und die geltenden Regeln zu erkennen und umzusetzen. Ein weiteres, einfaches Beispiel: Kunststoff- vs. Aluminiumspritzguss. Auf den ersten Blick gibt es gewaltige Unterschiede: Die Temperatur, der Druck, die Viskosität, die Wärmekapazität und -Leitfähigkeit sowie der Wärmeausdehnungskoeffizient des Rohmaterials und die Flexibilität des Endprodukts. Dazu die fatale Neigung von Aluminium, sich mit Luftsauerstoff zu verbinden. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten: Flüssige Materie strömt schnell unter Druck in eine Form, verdrängt dabei Luft, die raus muss, erkaltet und erstarrt schließlich durch Abkühlung. Sobald das Material erstarrt ist, schrumpft es durch weitere Abkühlung. Also alles einfache Prozesse, beschreibbar im Wesentlichen durch Gesetze der Mechanik, Strömungslehre und der Wärmeübertragung. Berechnet werden die Effekte heutzutage durch Computersimulationen, deren Beschreibung hier zu weit führt. Aber es sind Prozesse mit allgemeingültigen Regeln, völlig unabhängig von der Anwendung. Die Moral von der Geschicht: Die vermeintlich so unterschiedlichen Techniken entpuppen sich als überaus ähnlich! Gemeinsame Fehlerquellen sind z. B. Materialanhäufungen, die wegen der verzögerten Abkühlung und der Schrumpfung zu Löchern und Rissen (Lunkern) im Endprodukt führen. Auch alle anderen Phänomene sind mit ähnlichen Modellen berechenbar – genauso wie die Gegenmaßnahmen durch veränderte Formgebung des Werkzeugs und dessen Kühlung. Lunker z. B. müssen vermieden oder mindestens in unkritische Bereiche verschoben werden, z. B. durch zusätzliches Material an anderer Stelle. Selbst der Unterschied, die erwähnte Affinität des Aluminiums, sich mit Sauerstoff zu verbinden und Korund zu bilden, ist kein großes Hindernis, denn die Maßnahme dagegen ist einfach: Man muss alles mit Luft in Berührung gekommene Aluminium an unkritische Stellen bringen, die vielleicht sogar später zu entfernen sind. Eine ziemlich einfache Erkenntnis. Halten wir also fest: Man muss nicht zwingend Erfahrung im Aluminiumspritzguss haben! Die Kenntnis der grundlegenden Physik und dazu vielleicht Erfahrung im Kunststoffspritzguss setzen einen Ingenieur in die Lage, mit dem Spezialisten sofort auf Augenhöhe zu sprechen, ihn zu verstehen und Verbesserungen zu ersinnen! Nun gehen die Gemeinsamkeiten verschiedener Sparten viel weiter. Ich hatte es schon im genannten Artikel erwähnt: Viele Gesetze gelten auch in sehr unterschiedlichen Gebieten: Das Ohmsche Gesetz gilt in der Elektrizität, im Wärme- und Materialtransport, in der Aerodynamik und Hydrodynamik. In Letzteren schmuggelt sich ein Quadrat hinein, aber das erschwert nur das Rechnen ein wenig. Aber wussten Sie, dass u.a. Wärmeleitfähigkeits- und Temperaturberechnungen mit den Methoden der Elektrotechnik möglich sind? Es geht noch weiter: Die Wärmeleitungsgleichung und Diffusionsgleichung sind ebenfalls identisch und übertragbar. Dazu kommt der ganze Bereich der Ähnlichkeitstheorie, die mit dimensionslosen Kennzahlen völlig verschieden dimensionierte Systeme miteinander vergleichen lässt. Last, but not least: Es gibt (mindestens) ein spezielles Fachgebiet, das sich per se spartenübergreifend betätigt: Die Mess- und Regeltechnik.! Fachleute dieser Sparte messen und regeln alle denkbaren physikalischen Größen an allen möglichen Systemen. Sie sind darin ausgebildet, das (dynamische) Verhalten ihnen zunächst völlig unbekannter technischer Geräte und Anlagen zu analysieren, mathematisch zu modellieren und zu steuern oder regeln. Sie verstehen dann auch so erschröckliche Dinge wie Phasenverschiebung und Resonanz, egal, ob sie in Stereoanlagen den Klang stören, Bauten zum Einsturz bringen oder ein Auto unkomfortabel machen. Damit ist es endgültig erwiesen: Für den Ingenieur sind technische Kenntnisse und Erfahrungen in einer bestimmten Branche oder Techniksparte nicht zwingend notwendig. Es kommt lediglich darauf an, dass er genügend Erfahrung in (im wissenschaftlichen Sinne) ähnlichen Technikbereichen hat und die Fähigkeit, Analogien zu erkennen und zu nutzen. Dann kann er die Technik einer ihm vordergründig fremden Techniksparte und Branche sehr schnell vollständig überblicken und erfolgreich darin arbeiten. .fusion-body .fusion-button.button-2{border-radius:0px 0px 0px 0px;}.fusion-body .fusion-button.button-2 .fusion-button-text{text-transform:none;}zum Beitrag im UNITEDINTERIM-Blog Bildquelle: https://stock.adobe.com/ 205858229 Der Beitrag Wie der Ingenieur tickt – für Ökonomen und HRler erschien zuerst auf Dr. Althoff.
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