Die unterschätzte Wissenschaft der Persönlichkeit: Welche Möglichkeiten haben wir?

Persönlichkeit ist eine faszinierende, aber oft übersehene Dimension unseres Lebens. In einer Welt, die von schnellen Veränderungen und komplexen sozialen Interaktionen geprägt ist, spielt unsere Persönlichkeit eine entscheidende Rolle bei der Prägung unseres Verhaltens und unserer Lebenserfahrungen. Doch allzu oft wird sie vernachlässigt oder missverstanden. Dieser Artikel zeigt auf, warum sie so wichtig ist, wie sie unser Verhalten beeinflusst und warum wir sie besser verstehen sollten. Was ist eigentlich Persönlichkeit? Die meisten Psychologen und Sozialwissenschaftler sind sich einig, dass das Big-Five-Modell eine allgemeingültige Systematik zur Beschreibung der Persönlichkeit darstellt. Es ermöglicht individuelle Unterschiede in den typischen emotionalen, verhaltensbezogenen und kognitiven Tendenzen von Menschen zu erklären. Diese Tendenzen bilden unsere Persönlichkeit und erklären, was uns zu uns macht und wie wir uns voneinander unterscheiden. Die Kategorien im Big-Five-Modell sind emotionale Stabilität, Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen. Dabei gibt es eigentlich kein grundsätzliches „gut“ oder „schlecht“. Jede individuelle Kombination von Ausprägungen in den obengenannten Kategorien kann mal nützlicher und mal unbequemer sein. Das heißt, was die „richtigen“ Eigenschaften sind, hängt von den konkreten Anforderungen der Situation ab. Gleichzeitig ist es so, dass es häufiger im Leben Situationen gibt, in denen immer wieder eher die gleichen Eigenschaften nützlich sind. Meistens ist es nützlicher eher stabil als neurotisch, extravertiert als introvertiert, neugierig als engstirnig, sorgfältig als nachlässig und freundlich als unausstehlich zu sein. Dabei kann für die Ausprägungen der Eigenschaften eine Normalverteilung unterstellt werden, das heißt, die meisten Menschen befinden sich in einem mittleren Bereich und nur bei wenigen sind einzelne Eigenschaften extrem ausgeprägt. Dadurch haben die meisten Menschen auch die Möglichkeiten verschiedene Verhaltensweisen zu zeigen, z.B. mal detailorientierter und mal pragmatischer. Viele ein Leben charakterisierenden Merkmale wie die Lernleistung in der Schule, der berufliche Erfolg, die allgemeine Lebenszufriedenheit, die Gesundheit und das Wohlbefinden bis hin zur Lebenserwartung werden maßgeblich durch unsere Persönlichkeit beeinflusst und erklärt. Dazu gibt es Tausende unabhängige Studien und Metaanalysen. Wir selbst kennen unsere Persönlichkeit meist nicht. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass andere unsere Persönlichkeit häufig besser einschätzen als wir. Wenn wir versuchen zu analysieren, wer wir sind, schaffen wir uns eher ein schmeichelndes und angenehmes Selbstbild als ein realistisches. Das hilft unserem Optimismus und Selbstvertrauen, aber nicht, uns selbst zu verstehen. Dieser Effekt wird mit zunehmendem Alter eher stärker. Aber unser Verhalten wird nicht nur durch unsere Persönlichkeit, sondern auch durch die konkrete Situation bestimmt, in der wir uns befinden. Dabei gibt es Situationen, die stärker auf unser Verhalten wirken als andere, da sie stärkere Anreize bieten, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten. Beispielsweise versuchen auch sehr extrovertierte Menschen sich eher unauffällig zu verhalten, wenn sie durch die Passkontrollen am Flughafen müssen. Natürlich gibt es auch hier ausnahmen, denn auch unsere Bereitschaft diesen äußeren Anreizen zu folgen oder ihnen eher zu widerstreben ist ein Charakteristikum unserer Persönlichkeit. Ein anderes Beispiel für ein äußeres Anreizsystem ist die Unternehmenskultur. Sie bildet einen äußeren Rahmen, der bestimmte Verhaltensweisen belohnt und andere sanktioniert und dadurch unser Verhalten beeinflusst. Eine Persönlichkeitseigenschaft kann damit als Proxy für die Wahrscheinlichkeit, in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, verstanden werden. Das bedeutet auch, dass man in einer konkreten Situation auch mal Verhalten zeigen kann, dass aufgrund der eigenen Persönlichkeitsstruktur eigentlich eher unwahrscheinlich wäre. Persönlichkeitsentwicklung und persönliche Entwicklung Bis zu einem gewissen Grad kann man seine eigene Persönlichkeit gezielt verändern. Das ist nur unglaublich schwierig. Es erfordert in der Regel viel Geduld und Beharrlichkeit, selbst um winzige Änderungen an klar definierten Gewohnheiten herbeizuführen (z. B. andere ausreden lassen, optimistischer sein, freundlich zu Fremden etc.). Warum ist das so? Denn trotz unseres starken Wunsches, ein anderes Verhalten zu zeigen, gibt es eine tief verankerte Tendenz unser typisches Verhalten zu zeigen – unsere Persönlichkeit. Trainings, Feedbackprozesse und Coachings sind hilfreiche Instrumente, um sich neue Verhaltensweisen anzueignen, die eigentlich den eigenen Tendenzen widersprechen. Daher überrascht es nicht, dass es eine riesige Industrie gibt, die die Aufgabe hat, Menschen meist Führungskräften, aber auch Lehrern, Eltern und anderen in Verantwortung Feedback zu ihrer Persönlichkeit und ihrem Verhalten zu geben. Ernstgemeint geht es dabei um die unangenehme Aufgabe, Menschen mit einem Realitätscheck zu beweisen, wer sie sind oder zumindest, wie sie auf andere wirken. Diesen teilweise unangenehmen Informationen mit einer gewissen Offenheit zu begegnen, ist die Basis für die persönliche Weiterentwicklung und Steigerung der eigenen Effektivität. Psychometrische Testverfahren Für die Personalauswahl und -entwicklung ist es besonders relevant auf Basis von Persönlichkeitseigenschaften die Lernfähigkeit, das Arbeitsverhalten sowie die Stressbewältigung von Kandidaten vorhersagen zu können. Für den beruflichen Kontext können Persönlichkeitsmerkmale mit psychometrischen Testverfahren geschätzt werden. Die Testverfahren sind nicht perfekt, aber wenn sie richtig konzipiert und validiert sind, sind sie sehr nützlich. Leider sind viele, möglicherweise sogar die meisten verfügbaren Instrumente zur Persönlichkeitsmessung nicht wissenschaftlich validiert und basieren mehr auf Intuition als auf empirischer Forschung. Einige dieser unwissenschaftlichen Modelle erfreuen sich erstaunlicher Beliebtheit in der Praxis. Sie basieren meist auf Persönlichkeitstypentheorien, die von Wissenschaftlern erheblich kritisiert werden. Kernproblem dieser Typentheorien ist, dass es praktisch unmöglich ist, die Vielfalt der menschlichen Persönlichkeit mit einer kleinen Anzahl voneinander abgrenzbarer Typen sinnvoll zu beschreiben. In den Testergebnissen wird dann häufig nur Allgemeingültiges geschrieben, das jeder gerne liest. Das ist nicht viel anders als in Horoskopen. Bei einigen Personalentscheidern finden solche Verfahren möglichweise deshalb Anklang, weil sich die Entscheider sehr wohl fühlen, wenn sie ihre eigenen Ergebnisse in einem Probedurchlauf lesen und sich mit den Beschreibungen aus den Berichten daher identifizieren können. Außerdem „stören“ solche Tests nicht bei der Personalauswahl. Sie lassen alle Möglichkeiten offen und man kann sich weiter auf seine Intuition verlassen. Insgesamt schaden diese pseudowissenschaftlichen Verfahren erheblich, weil sie zum einen den Anwendern zu Fehlentscheidungen verleiten und zum anderen, weil sie das ganze Konzept von psychometrischen Testverfahren in Misskredit bringen. Bei der Auswahl von Testverfahren sollte daher zwingend auf eine wissenschaftlich anerkannte theoretische Basis sowie eine solide empirische Bewährung und akzeptable Gütekriterien geachtet werden. Fazit Unsere Persönlichkeit ist ein unsichtbarer, aber mächtiger Einflussfaktor in unserem Leben. Das Big-Five-Modell bietet uns eine wertvolle Landkarte, um unsere eigenen emotionalen, verhaltensbezogenen und kognitiven Tendenzen zu erkunden. Die Tatsache, dass wir unsere eigene Persönlichkeit oft nicht gut kennen, unterstreicht die Bedeutung von Feedback und Selbstreflexion. Dieser Prozess kann unbequem sein, aber er ist der Schlüssel zur persönlichen Entwicklung und zur Steigerung unserer Effektivität. Im beruflichen Kontext können Persönlichkeitstests nützliche Werkzeuge sein, um die Lernfähigkeit, das Arbeitsverhalten und die Stressbewältigung von Kandidaten vorherzusagen. Allerdings ist Vorsicht geboten, da viele dieser Tests unwissenschaftlich sind und auf fragwürdigen Theorien beruhen. Insgesamt ist es an der Zeit, die Wissenschaft der Persönlichkeit aus ihrem Schattendasein zu holen und ihr die Aufmerksamkeit zu schenken, die sie verdient. Denn sie beeinflusst nicht nur, wer wir sind, sondern auch, wer wir sein könnten. 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