Der ehemalige Attac-Sprecher Pedram Shahyar hat viele Protestbewegungen begleitet und beobachtet. Heute betreibt er zusammen mit Marcus Staiger das Portal Komm:on. Im ausführlichen Interview spricht Shahyar über linken Aktivismus, Protestformen, Querdenken-Demos, gesellschaftliche Spaltung und seinen früheren Arbeitgeber Ken Jebsen. Pedram, vielleicht kannst du dich zu Beginn kurz selbst vorstellen? Ich bin seit dreißig Jahren in verschiedenen sozialen Bewegungen in Deutschland aktiv und habe mich in den letzten zehn Jahren vor allem mit Online-Aktivismus beschäftigt. Sehr intensiv habe ich zum Beispiel die Bewegungen im Mittleren Osten verfolgt, ich war während des Arabischen Frühlings in Kairo und konnte dort beobachten, wie soziale Medien zum Einsatz kommen. In diesem Bereich arbeite ich heute auch als Berater für einige Bundestagsabgeordnete. Außerdem schreibe ich noch meine Doktorarbeit über Soziale Bewegungen, die hoffentlich im nächsten Semester fertig wird. Du hast ja früher selbst Seminare an der Freien Universität Berlin gegeben, richtig? Ja, ich war zehn Jahre freier Lehrbeauftragter am Institut für politische Theorie. Und wenn linke Bundestagsabgeordnete eine Frage zu Social Media haben, kommen sie zu dir? Genau. Ich habe für dutzende Politiker aus der Linken, aber auch von den Grünen Social Media-Kanäle aufgebaut. Wann hast du das letzte Mal auf einer Demo eine Rede gehalten? Das ist lange her, wahrscheinlich war das 2014, 2015. Damals bin ich viel mit der neuen Friedensbewegung unterwegs gewesen, war Redner in 20 Orten auf den Kundgebungen. Ich bin auch heute in Berlin viel auf der Straße, auf allen möglichen Demos, jetzt aber mit dem Schwerpunkt Medienaktivismus. ZitiertDie Spaltungen in der Gesellschaft werden toxisch, wenn man nicht mehr miteinander spricht.Sahra Wagenknecht war ein Bestseller und ihr Autorenerfolg wichtiger als das Abschneiden ihrer Partei.Es ist eine Aufgabe von Jahrzehnten und Generationen, bis man den Kapitalismus wirklich abschaffen kann.Ken Jebsen ist heute verrückt kriminell und betreibt Geschäftemacherei mit den Ängsten seines Publikums.Pedram ShahyarNächstes Zitat Wie ist dein Verhältnis zu den Querdenken-Demos, die seit Beginn der Corona-Pandemie stattfanden? Mit diesen Demos will ich nichts zu tun haben. Das ist in meinen Augen auch keine progressive Bewegung. Ich verstehe die Sorgen vieler Menschen, beim Pandemie-Management gibt es große Probleme und es ist absolut legitim, dagegen zu demonstrieren. Doch von Querdenken bin ich politischer Gegner. Ich halte die für verantwortungslos und von ihrem politischen Framing her völlig daneben. Kannst du das genauer erläutern? Ich betrachte die Pandemie ganz anders als Querdenken. Ich habe Verständnis dafür, wenn Menschen sich Sorgen um Grundrechte machen, um autoritäre Tendenzen in der Politik, für solche Sorgen gibt es auch reale Gründe. Doch bei Querdenken hat sich ein Weltbild durchgesetzt, dass meiner Ansicht nach postfaktisch ist, wo die gesundheitlichen Probleme, die wir durch die Pandemie haben, schlicht geleugnet werden. Es hat sich öfters gezeigt, dass die Bewegung Infektionsschutz nicht achtet, wodurch sie Menschenleben gefährden. Der politische Diskurs, der bei Querdenken geführt wird, erinnert mich stark an Steve Bannon und die Think Tanks hinter Donald Trump: Es gäbe eine globalistische Elite, die uns mit einem Great Reset ein Gesellschaftssystem nach chinesischem Vorbild aufdrücken will. – Das ist ein rechtspopulistischer Diskurs, den man meiner Meinung nach bekämpfen muss. Siehst du das Postfaktische auch bei Teilbewegungen wie dem „Demokratischen Widerstand“ um den Publizisten Anselm Lenz? Ja. Was aus der Ecke kommt, finde ich total gefährlich, weil sie sich als links framen, was sie aber nicht sind. Jemand wie Lenz geht Hand in Hand mit Faschisten auf die Straße, das hat mit links sein oder kritisch sein, gar nichts mehr zu tun. Das sind Bewegungen, die ich auch bekämpfen würde, weil sie für mich Rechtsextremismus normalisieren. Das betrifft jetzt aber nicht die Querdenkenbewegung als Ganzes, nicht alle in der Querdenken-Bewegung sind so. Du sagst, „Hand in Hand mit Faschisten“ – wen meinst du damit konkret? Zum Beispiel tritt Anselm Lenz offen mit Jürgen Elsässer auf. Das ist für mich Förderung des Rechtsextremismus in Deutschland. Querdenken hat im letzten Jahr den Kabarettisten Florian Schröder eingeladen, auf ihrer Bühne zu sprechen. Was wäre, wenn sie dich eingeladen hätten? Auf einer Querdenken-Bühne würde ich nicht sprechen. Aber ich würde zu Diskussionen gehen, das habe ich auch schon Leuten angeboten, die ich noch von der Friedensbewegung kenne und die jetzt in der Querdenken-Ecke sind. Die schmeiße ich auch nicht aus meinem Facebook-Freundeskreis raus. Ich finde, man muss im Dialog bleiben, miteinander sprechen. Der Journalist Olaf Sundermeyer formulierte einmal, „die Corona-Protestbewegung macht gemeinsame Sache mit Rechtsextremisten“. Stimmst du dem zu? Ja, das ist so. Es betrifft aber nicht alle Menschen in dieser Bewegung, ich finde es auch Blödsinn, alle Menschen in der Querdenken-Bewegung als rechts zu bezeichnen, das ist faktisch falsch. Es gibt einige Menschen in meinem Freundeskreis, die mit Querdenken sympathisieren, mit Rassismus oder rechter Politik aber absolut nichts zu tun haben. Deshalb muss man da differenzieren. Fakt ist allerdings, dass immer wieder die organisierte, rechtsextreme Szene zu den Querdenken-Demos mobilisiert hat und es von Seiten der Querdenken-Organisatoren nicht wirklich den Versuch gegeben hat, das zu verhindern. Ist es denn möglich, so etwas zu verhindern, dass man als Bewegung gekapert wird? Ja, man kann das versuchen, man kann es auch schaffen. Als ich 2014 bei den „Mahnwachen für den Frieden“ aktiv war, gab es auch sehr starke Versuche von rechtsextremen Kreisen, diese Bewegung zu unterwandern – woraufhin wir das systematisch abgewehrt haben: wir haben uns deutlich von diesen Kreisen distanziert, haben versucht, diese Leute nicht in die Organisationsstrukturen zu lassen und ihnen klar gemacht, dass sie nicht willkommen sind. Den bekanntesten Vertreter, Jürgen Elsässer, haben wir damals öffentlich ausgeladen, er war als Redner auf diesen Demos nicht mehr erwünscht. Obwohl die Montagsmahnwachen dezentral organisiert wurden, haben wir es geschafft, die rechtsextremen Kräfte rauszudrängen und zu marginalisieren. Das hat die Querdenken-Bewegung meiner Ansicht nach nicht gemacht und das hat sie Legitimität gekostet. Du hast 2014 in einem Interview mit dem „Neuen Deutschland“ mal über Demonstrationen gesagt: „Wenn die Linken ihre Beteiligung davon abhängig machen, ob irgendwo ein Rechter auf dem Platz ist, dann müssten sie Bewegungspolitik aufgeben.“ Siehst du das heute auch noch so? Absolut. Ich war ja 2004 als Koordinator von Attac Deutschland bei den Montagsdemonstrationen – damals gegen HartzIV – beteiligt, diese Demos waren auch voll mit Nazis, mit Mitgliedern der „freien Kameradschaften“. Und man kann nicht sagen sobald irgendwo ein Nazi auftaucht verlasse ich den Platz. Diese Forderung hörte man ja in Bezug auf Querdenken häufiger. Meine Forderung wäre: Drängt diese Leute aus eurer Bewegung raus. Macht denen klar, dass sie nicht willkommen sind. Und wenn organisierte rechtsextreme Kräfte kommen, schmeißt sie raus, wenn es sein muss auch mit Unterstützung der Polizei. Das geht. Aber bei Querdenken sehe ich nicht, dass sie es zumindest mal versucht hätten. Michael Ballweg hat sich ja in seinen Reden oft vom Extremismus generell distanziert. Das finde ich sympathisch, ich glaube auch nicht, dass Ballweg ein Rechtsextremist ist. Doch allein mit so einer Ansage ist es nicht getan. Wenn rechtsextreme Kräfte kommen, musst du sie systematisch zurückdrängen. Bei Querdenken habe ich eher so eine Haltung gesehen wie alle sind ok oder rechts und links gibt es nicht mehr – so ein Haltung finde ich unverantwortlich. Wenn man kein Problem mehr darin sieht, wenn Reichskriegsflaggen geschenkt werden, verliert so eine Bewegung an Legitimität. Man muss natürlich auch differenzieren: Bei den ersten Demos von Querdenken wurden noch Abstände eingehalten, die haben sogar Masken getragen, ja. Das war noch ein anderer Geist, als man ihn später in dieser Bewegung erlebt hat. Querdenken hat sich meiner Meinung nach radikalisiert, die Bewegung wurde zunehmend von rechtsextremistischen Kräften sowie den Flügelfraktionen der AfD unterwandert – was kaum auf Widerstand gestoßen ist, sondern auf eine naive, dumme und verantwortungslose Verschwesterung, nach dem Motto: Alle, die hier sind, sind okay. Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Querdenker Reichskriegsflaggen befürwortet, aber die Ausgrenzung hat nicht stattgefunden. Fast so, als ob es ihnen egal ist. In Leipzig waren bei einer Querdenken-Demo Nazi-Hooligangs organisiert präsent – und ein paar hundert Meter weiter standen Familien mit Kindern. Ich behaupte nicht, dass die alle rechtsextrem sind, überhaupt nicht. Aber es gibt kein Bewusstsein, dass dort eine Abgrenzung stattfinden muss. Im Mai 2020 wurde am Vorabend einer der ersten Querdenken-Demos in Stuttgart eine Technikfirma in Brand gesetzt, die für Querdenken arbeitete. Wie beurteilst du so einen Anschlag? Ich finde, solche Anschläge sind immer zu verurteilen, außer, es richtet sich gegen Neonazis, denn da sehe ich es differenzierter und bin nicht immer nur der Meinung, dass man gewaltfrei handeln muss. Aber so etwas wie in Stuttgart ist kriminell und ich kann das nicht gutheißen. Allerdings kennt man die Täter bis heute nicht. Das können verrückte Antifa-Leute gewesen sein, aber auch versteckte Polizisten oder Neonazis, die False-Flag-Aktionen machen. Du hast erwähnt, dass auch Freunde von dir mit Querdenken sympathisieren, mit denen du Gespräche führst Ja, ich führe sehr fruchtbare Debatten mit diesen Menschen. Ich bin auch absolut der Meinung, dass wir im Dialog bleiben müssen. Wer weiß schon genau, wer wo Recht hat? Offen zu sein dafür, dass auch an der gegenüberstehenden Meinung etwas dran sein könnte, gehört für mich zur kommunikativen Ethik. Man sollte immer auch die eigene Position infrage stellen und die Meinung des anderen ernst nehmen, so lange die Person nicht vollkommen verrückt geworden ist. Für mich hat die Pandemie drei entscheidende Kernprobleme: die Herausforderung für das Gesundheitssystem, die Gefahr von Autoritatismus, sprich dass der Staat die Pandemie dazu nutzt, die Bürger mehr zu kontrollieren – und drittens sehen wir dramatische soziale Folgen. Ich finde, man muss bei allen drei Punkten die Ängste der Menschen ernst nehmen und versuchen darüber im Gespräch zu bleiben. Und nicht jemandem, der den Gesundheitsschutz nicht ernst nimmt, gleich unterstellen, dass er will, dass Leute sterben. Oder jemand, der die Gefahr vor einem autoritären Staat nicht sieht, ist nicht automatisch ein Handlanger des Faschismus. Solche Beschuldigungen machen eine konstruktive Diskussion unmöglich. Außerdem: Die Pandemie wird irgendwann weg sein, wir als Menschen sind dann aber immer noch da und müssen irgendwie miteinander leben, miteinander umgehen, zusammen arbeiten, anstehende Protestbewegungungen für mehr Demokratie gemeinsam organisieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir im Dialog bleiben, so lange es möglich ist. – Ich merke aber auch: mit manchen Menschen bringt es nichts mehr, zu diskutieren Wo ist für dich die Grenze? Wer gegenüber Rechtsextremisten tolerant ist und sie umarmt – dafür habe ich kein Verständnis. Und wenn das Thema Corona ist, diskutiere ich nicht mehr darüber, ob dieser Virus irgendwie gefährlicher ist, als eine Grippe. Auch nicht darüber, ob es wirklich eine Pandemie gibt. Sehr wohl Gegenstand der Diskussion ist für mich, ob Lockdownmaßnahmen richtig sind oder nicht. Wenn jemand sagt, man muss den Virus frei laufen lassen, ist das für mich eine absolut unverantwortliche Position – aber diese Position darf jemand haben, dafür mache ich diesen Menschen nicht zum Feind, derjenige hat eine andere Meinung und es ist völlig legitim, darüber zu diskutieren. Als in Berlin im April 2021 gegen das Infektionsschutzgesetz demonstriert wurde, machte in den Sozialen Netzwerken auch ein angebliches Antifa-Plakat die Runde, das zur Demo gegen das Gesetz aufrief. Dieses Plakat ist sicher ein Fake. – Ich zähle mich zu der politischen Linken und dort werden die Corona-Maßnahmen sehr kontrovers diskutiert, auch bei uns im Team von Komm:on haben wir dazu sehr unterschiedliche Meinungen. Es gehört zur demokratischen Gesellschaft, über die Pandemie verschiedene Meinungen haben zu können, wir leben ja nicht in China. Für mich ist aber entscheidend, sich daran zu halten, was die globale Zunft der Epidemiologen und Virologen und Virologinnen dazu sagen. Und die waren sich bei Corona, was die harten Fakten betrifft, weitestgehend einig. Querdenken-Demonstranten wurden im Verlauf der Pandemie oft als „Covidioten“ und „Corona-Leugner“ abgestempelt. Glaubst du, das hat auch dazu beigetragen, dass manche sich radikalisierten? Natürlich. Aber es gibt auch Idiotie: Wenn irgendjemand glaubt, alle Staaten dieser Welt hätten sich verschworen um überall die Diktatur zu errichten – das ist für mich eine idiotische Annahme! Und wenn jemand die gesundheitliche Gefahr durch Corona für sich nicht wahrhaben will, dann ist das eine Form von manifestierter Dummheit. Du hast früher mit Ken Jebsen zusammengearbeitet. Kannst du kurz erzählen, was du bei Kenfm gemacht hast? Ich war der erste, der auf Kenfm neben Ken Jebsen eine eigene Sendung hatte. Ich habe ihn 2014 kennen gelernt und bekam drei Monate später ein eigenes Format, „Rebellunion“. Ich war beim Aufstieg dabei, als die Zahl seiner Abonnenten auf Youtube von 60.000 auf 200.000 wuchs. Und gemeinsam mit Florian Kirner haben wir uns immer total vor Ken Jebsen gestellt und ihn gegen Kritik verteidigt, gegen die ganzen Attacken, die aus der Linken kamen. Nach dem Engagement bei Kenfm habe ich meinen Lehrauftrag an der FU verloren. Dort hieß es dann nach zehn Jahren plötzlich ich sei „bei den Hausarbeiten zu langsam“. Es gab auch bestimme linke Institutionen, die mich aufgrund der Verbindung zu Ken nicht mehr so einfach reingelassen haben. Aber ich war damals überzeugt davon, dass ich das machen muss. Weil er eben kein Rechter war. Ist er auch heute nicht. Er war ein Suchender, der auch mit den Linken Verbindungen gesucht hat. Allerdings hat er sich später sehr verändert, etwa ab 2017, da hat leider der Wahnsinn ein bisschen die Kontrolle übernommen. Jebsen behauptete 2021 in der letzten Folge seines Formats „Me Myself & Media“ u.a.: „Über 99% der Menschen in Deutschland sind von Covid-19 nicht betroffen“. Wie stehst du zu so einer Aussage? Ken Jebsen ist heute verrückt kriminell und betreibt Geschäftemacherei mit den Ängsten seines Publikums. Ihn interessieren nur noch seine Klicks, ihn interessiert eigentlich kein Inhalt mehr. Er weiß auch nicht mehr, was er vor zwei Wochen gesagt hat. Jebsen hat behauptet, Bill Gates hätte mehr Macht als Churchill, Stalin und Roosevelt zusammen – das ist Idiotie, das ist Verdummung. Aber bei ihm ist ein System dahinter, das Geschäft mit der Angst. Meiner Ansicht nach ist das kriminell. Es geht beim Pandemiemanagement ja vor allem darum, die vulnerablen Gruppen zu schützen, die Risikogruppen. Und das sind bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung, die massive Schäden von Corona nehmen können. Wenn Jebsen behauptet, es wären nur ein Prozent betroffen, lügt er bewusst – nur um Klicks zu produzieren. Er formuliert also Falsches wider besseren Wissens? Ja, definitiv. Das ist eine systematische Fake-News-Produktion. Da geht es nicht mehr darum, sich der Wahrheit anzunähern. Das sieht man auch daran, dass es keinerlei Versuch gab, Corona als neues Phänomen zu betrachten, das man noch nicht kennt. Stattdessen trat Ken Jebsen in einem Video als Joker auf: Und der Joker ist, wie wir wissen, bereit die Welt abzufackeln, Hauptsache er steht im Mittelpunkt. Schau dir als Gegenbeispiel Joe Rogan in den USA an: Der lädt sich Epidemiologen ein und die quatschen dann darüber. Jebsen hat sich ja beispielsweise mit Stefan Hockertzs unterhalten, mit Wolfgang Wodarg und Sucharit Bhakdi, letztere waren früher auch Interview-Partner der Öffentlich-Rechtlichen. Klar kann er die interviewen, aber hat er irgendjemand interviewt, der eine andere Meinung hatte als er selbst? Diese Lücke und diese Einseitigkeit stelle ich bei Jebsen auch fest. Doch der Vorwurf „kriminell“ und „Verdummung“ klingt – aus dem Mund eines früheren Mitarbeiters – relativ hart. Aber ich sehe das genau so. Ich kannte Kenfm ja von innen. Und Ken Jebsen hat sich gegenüber der Zeit, wo ich dort war, sehr verändert. Damals war es zwar auch zum Teil einseitig, aber es wurde zumindest der Versuch gemacht, ein neues Phänomen zu verstehen. Du selbst hast in einem Video für Komm:on frühere Beiträge von Kenfm als „große Aufklärung“ bezeichnet. Ja, weil es den Versuch gab, sich Phänomenen anzunähern, weil es auch darum ging, kritische Geister zu interviewen, die wirklich versuchen, die Gesellschaft in ihrer Widersprüchlichkeit zu verstehen. Was wir aber bei Kenfm in der Pandemie gesehen haben, zum Teil auch schon vorher, ist eine Fake News-Maschine, die systematisch Ängste der Menschen multipliziert. Ohne dass man versucht, Antworten zu finden, auf komplexe Fragen. Wenn Jebsen sagt, 99 Prozent der Bevölkerung sind von Corona nicht betroffen, ist das eine bewusste Lüge. Man weiß heute, dass das nicht stimmt. Wer so etwas trotzdem verbreitet, will nur eines: systematische Destabilisierung der öffentlichen Meinung, des gesellschaftlichen Zusammenhalts, systematische Zerstörung der Räume des Dialogs. Das hat bei Kenfm stattgefunden, ähnlich wie bei Russia Today. Ich habe dafür kein Verständnis mehr und es sind jetzt meine politischen Gegner. Du hast früher gemeinsam mit Ken Jebsen demonstriert, ihr habt zusammen auf einer Bühne gestanden weil er damals anders war. Er war nicht so getrieben von seinen Traumata und seinem Narzissmus wie heute, sondern von einem politischen Willen. Diesen politischen Willen erkenne ich bei ihm nicht mehr. Es gibt eine fantastische Doku des ZDF über Alex Jones, wenn man sich die anschaut, versteht man Ken Jebsen und sein heutiges Auftreten besser. Es geht ihm nicht mehr darum, die Wahrheit zu finden. Denn wenn du die Wahrheit wirklich finden willst, wie gehst du dann vor? Du hörst dir bei einem neuen Phänomen wie Corona an, was die Fachleute dazu sagen. – Klar kannst du auch mit einem Außenseiter wie Wodarg reden, aber frag auch jemandem aus dem Mainstream und versuche, einen Dialog zu organisieren – und dann schau dir an, was an den verschiedenen Argumenten dran ist. Ich habe eine gewisse ethische Leitplanke, das sind die Schwachen in der Gesellschaft. Bei Ken erkenne ich keine ethische Leitplanke mehr, ich erkenne keine politische Suche und Ethik mehr, sondern es geht nur noch um: Destabilisieren, Zerstören, Angst multiplizieren – Hauptsache meine Aufmerksamkeit und meine Reichweite steigt. Das ist für mich kriminell und gehört bekämpft. Erhebst du gegenüber Jebsen auch den Vorwurf, er sei Antisemit? Nein. Und wenn zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Rundfunk ihn als Holocaust-Leugner darstellt Nein, das ist Blödsinn. Das ist ja auch alles inzwischen aufgearbeitet. Der SWR behauptete das noch 2020. Das ist Fake News, das stimmt nicht. Damals hat Hendryk M. Broder E-Mails total aus dem Kontext gerissen, das war von Broder ein höchstkriminelles Manöver, der ist für mich genauso ein absolut krimineller Typ. Wo du jetzt mehrfach das Attribut „kriminell“ verwendest: Was meinst du damit? Kriminell sind für mich Leute, die Rechte von Anderen bewusst verletzten, um selbst Geschäfte zu machen. Diese Kriminellen treffen sich übrigens am Ende alle wieder, das ist ja das Interessante. Wir sind alle gegen Merkel, gegen das Merkel-Regime, gegen Migration, gegen das Pandemie-Management, alle für Freiheit – was in dem Fall aber nur heißt: Meine Freiheit auf Kosten anderer. Du warst nicht gegen Merkel? Natürlich war ich gegen Merkel, wenn es um Sozialpolitik geht, wenn es um Außenpolitik geht. Aber dieses Bild vom „Merkel-Regime“, das hier aufgebaut wurde – damit meinen diese Leute ja eine tolerante, offene Gesellschaft, in der auch eine gewisse Gemeinwohlorientierung existiert. Ich lehne Querdenken auch aufgrund ihres Freiheitsbegriffs ab, weil ich der Meinung bin, dass man Freiheit und Gemeinwohl immer zusammen denken muss, nur darin hat die Gesellschaft eine Zukunft. Was aber bei Querdenken formuliert wird, ist ein Freiheitsbegriff, wo jeder nur für sich selbst verantwortlich ist – vielleicht noch für die eigene Familie, aber das ist dann auch die Grenze, darüber hinaus schauen wir nicht mehr: Meine Freiheit ist das Entscheidende, es gibt keine Moral, keine Ethik und Gemeinwohl als Kategorie existiert nicht mehr. Das ist sozusagen die Hyperventilation des Neoliberalismus. Du hast im Komm:on-Video über Ken Jebsen formuliert, dass wir heute einen anderen Umgang bräuchten „mit chaotischen Denksystemen“. Kannst du das näher erläutern? Wir erleben im politischen System eine Chaotisierung der Denksysteme. Die Parteienlandschaft splittert immer weiter auf, man kann die Welt gedanklich nicht mehr so ordnen, wie es noch zur Zeit des Kalten Krieges möglich war, wir erleben außerdem große Transformationen – Digitalisierung, Ökokrise, neue Geopolitik mit Aufstieg Chinas, Multilateralismus usw. Das führt dazu, dass im Bewusstsein bisherige Ordnungssysteme sehr schwach werden und nicht mehr so greifen, wie es früher der Fall war. Das wird widergespiegelt durch eine starke Fragmentierung der politischen Parteien, es zeigt sich aber auch in Protestbewegungen und im Bewusstsein von jedem Einzelnen. Ich finde, wir sollten eine gewisse Chaos-Toleranz haben. Denn wir können nicht mehr erwarten, dass alles so schön geordnet ist und sich politische Lager eindeutig definieren lassen. Wie viel Toleranz ist denn innerhalb der Linken vorhanden? Die Partei streitet ja sehr häufig in den eigenen Reihen Die Spaltung innerhalb der Linken ist ein richtig großes Problem. Allerdings ist auch die CDU gespalten, die AfD genauso – das betrifft alle politischen Lager, auch die Grünen werden sich zerspalten, schneller als man sich umgucken kann. Meiner Meinung nach hat das mit den dramatischen Transformationen in der Gesellschaft zu tun, die dieses Chaos in der politischen Landschaft produzieren. Im Vorfeld der Bundestagswahl stritt sich die Linke offen mit ihrer einstigen Führungsfigur Sahra Wagenknecht. Steht sie deiner Meinung nach nicht mehr für linke Politik? In vielen Fragen vertritt Sahra Wagenknecht in brilianter Weise linke Positionen, z.B. in der Sozialpolitik. Sie hat auch in vielen Punkten ihrer Kritik an Die Linke recht. Die Linken haben oft einen akademischen Habitus aus den urbanen Zentren, und viele junge linke Milieus verlieren ihren Anschluss an die sozial Ausgegrenzten. Daran muss die politische Linke arbeiten, und es gibt viele gute Beispiele, vor allem aus den USA, wo die neue Linke wirklich erfolgreiche Massenpolitik macht. Aber wenn Sahra Wagenknecht die geringen Löhne und den Sozialabbau mit der Migration in Verbindung bringt, dann ist das faktisch falsch und sicher keine linke, sondern dezidiert eine rechte Position. Auch ihre Kritik an den großen progressiven, sozialen Bewegungen unserer Zeit wie Black Lives Matter, nach Chomsky die größte und vielleicht wichtigste soziale Bewegung in der Geschichte der USA, oder Fridays for Future, die größte Mobilisierung in Deutschland seit den Lichterketten Anfang 90er, ist völlig überzogen und inhaltlich für Die Linke nicht tragbar. Ich werfe ihr aber vor allem vor, dass sie diese Debatten nicht in einem solidarischen Rahmen in der Linken führt, sondern nur über große, meist konservative Medien. Das Timing ihres letzten Buches war eine Katastrophe für Die Linke, weil es die Partei in der heißen Phase der Wahlkampfes völlig auseinander riss, gespalten und demotiviert hat. Unmittelbar danach halbierten sich die Umfragewerte in Nordrhein-Westfalen, der Hochburg der Linken im Westen, wo sie auf dem Spitzenplatz gewählt wurde. Ihr war ein Bestseller und ihr Autorenerfolg wichtiger als das Abschneiden der Partei. Ich denke das war einer der wichtigsten Gründe für das schlechte Ergebnis der Linken bei den letzten Wahlen. Du bist ja sozusagen Profi was Demonstrationen anbelangt. Glaubst du, dass nach den Wirren er Corona-Zeit zukünftig wieder mehr Menschen auf die Straße gehen werden? Ich glaube, dass wir hinsichtlich Protestbewegungen einen massiven Aufschwung erleben werden. Bevor die Pandemie kam, hatten wir 2017, 2018 und 2019 die mobilisierungsstärksten Jahre von Protestbewegungen in Deutschland seit mindestens 30 Jahren, wenn nicht sogar seit dem Zweiten Weltkrieg. Protestbewegungen werden zunehmen und auch bei ganz unterschiedlichen Fragen auftreten. Und hier meine ich mit Chaos-Toleranz, dass man nicht mehr erwartet, dass der Demo-Nachbar mit einem in allen Fragen übereinstimmt, sondern dass man trotzdem miteinander auf die Straße geht, um sich für ein bestimmtes Anliegen einzusetzen. Ich persönlich bin an der Stelle für eine sehr große Toleranz – nur nicht gegenüber Rechtsextremen, das ist die Grenze, da habe ich Null Toleranz. Du warst früher auch im sogenannten „Schwarzen Block“ aktiv Ich war mit 16 in Köln im Schwarzen Block, bei Demos während des Zweiten Golfkriegs, 1991 als Bush senior den Irak angegriffen. Danach aber nicht mehr. Was waren bzw. sind als Aktivist deine Ziele? Ich bin demokratischer Sozialist, d.h. ich glaube nicht, dass der Kapitalismus als Wirtschaftssystem das Richtige ist. Und mich treiben vor allem drei Dinge an, die auch miteinander zusammenhängen: die Klimakatastrophe, die auf uns zukommt, die Gefahr von Krieg zwischen den Großmächten und das undemokratische, ungerechte Wirtschaftssystem. Mit diesen Problemen beschäftige ich mich seit meiner frühen Jugend, wobei mir damals die ökologische Krise noch nicht so bewusst war, das ist mir erst durch Fridays for Future (FFF) richtig bewusst geworden. Das Ziel ist eine eine politische Bewegung, die global groß genug ist, um ein anderes Wirtschaftssystem errichten zu können, das ökologisch nachhaltig ist, auf Kooperation und Frieden setzt, statt auf Konkurrenz und Gegeneinander. Ein System, in dem die Wirtschaft und der Reichtum unter der Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger ist und nicht in der Hand von einigen wenigen Oligarchen liegt. Aber wie du schon erwähntest, formulierst du diese Ziele nicht mehr als Redner auf Demo-Bühnen Wenn man mich einlädt, würde ich das noch machen. Aber mein Fokus liegt heute mehr auf der Medienarbeit, dem Aufbau von Online-Präsenzen. Wie kann man politische Bewegungen und Belange, eine Opposition, wie ich sie vertrete, medial darstellen? Das ist aktuell meine Baustelle. Ich verfolge in den USA zum Beispiel Plattformen wie „Democracy Now“ oder „The Young Turks“, was sehr starke Kanäle sind, wo man gute Inhalte für politischen Aktivismus bekommen kann. Solche Plattformen sind in Deutschland leider noch Mangelware. Daran arbeite ich. Eine wichtige Rolle für Medienaktivismus spielt Youtube. Wie stehst du zu den zahlreichen Sperrungen durch Youtube in den letzten Monaten? Auch den Kanal von Kenfm gibt es nun nicht mehr. Im Fall von Kenfm begrüße ich tatsächlich die Sperrung. Grundsätzlich ist es aber ein großes Problem, dass unsere Kommunikation immer stärker auf soziale Medien angewiesen ist, die von Oligarchen kontrolliert werden. Es kann nicht sein, dass Google, Youtube, Facebook usw. diese gigantische Macht über unsere Kommunikation haben, und die Kontrolle darüber bei Oligarchen und Investmentbanken liegt. Dass einzelne Leute darüber entscheiden können, wer in diesen öffentlichen Kanälen sein darf und wer nicht, ohne dass es irgendeinen demokratischen Standard gibt und keine öffentliche Diskussion, das ist ein Unding. Der Staat sollte hier also stärker regulieren und Instanzen aufbauen? Absolut. Es kann nicht sein, dass ein Mark Zuckerberg darüber entscheidet, welche Facebook-Kanäle OK sind und welche nicht, sondern das braucht öffentliche Kontrolle, von Bürgerinnen und Bürgern – über die Formen muss man sich dann unterhalten, da gibt es sicher Experten, die dafür gute Konzepte haben. Ich finde auch, dass die Konzerne das Thema Verschwörungstheorien, die systematische Verbreitung von Lügen und Fake-News, viel zu lange haben schleifen lassen – zum Beispiel bei Q-Anon, ein absolutes kriminelles Storytelling, das bereits dazu geführt hat, dass Menschen losziehen mit Waffen in der Hand. Da war es richtig und wichtig, dass die sozialen Netzwerke deren Kanäle irgendwann dicht gemacht haben. Gleichzeitig erleben wir, dass gewisse kritische Inhalte in sozialen Medien von Shadowbanning betroffen sind: Ohne dass man es merkt, wird die Reichweite eingegrenzt. Das ist mir selbst schon mal bei einem unserer Videos aufgefallen, wo die Youtube-Klickzahlen plötzlich wie eingefroren waren. Bei was für einem Beitrag passierte das deiner Meinung nach? Da ging es um eine Recherche zum Attentat vom Breitscheidplatz in Berlin. Wir hatten in unserem Kanal zum Fall Anis Amri recherchiert und da gibt es ja noch sehr viel Ungereimtheiten, wie es auch der Untersuchungsausschuss gezeigt hat. Die Story ein einzelner islamistischer Terrorist hat einen Anschlag verübt, die stimmt nicht. Und es ist nach wie vor unklar, wie viel Geheimdienst da mit dabei war. Wir haben also eine Recherche dazu gemacht und die Klickzahlen zu diesem Beitrag blieben eine Zeit lang einfach stehen, erst nach einigen Tagen ging es weiter. Das Gleiche ist uns auch mit einem anderen Beitrag passiert, der ebenfalls das Thema Geheimdienste und Islamisten behandelt hat. Wer veranlasst denn deiner Meinung nach so ein Shadowbanning? Das macht Youtube, aber wer das veranlasst, weiß ich nicht, das wäre jetzt Spekulation. Ich finde, es ist richtig, dass gewisse Inhalte in sozialen Medien geblockt und verbannt werden, nämlich dann, wenn systematische Lügenmaschinen aufgebaut werden, die auch noch zu Gewalt oder kriminellen Handlungen führen können. Das kann man bei gewissen Themen ja auch klar nachweisen. Wenn zum Beispiel jemand behauptet, Corona sei so gefährlich wie eine Grippe, dann ist das einfach eine Lüge. Und wenn jemand so etwas systematisch verbreitet, finde ich es richtig, wenn so etwas gesperrt wird. Oder wenn jemand behauptet, Menschen mit schwarzer Hautfarbe wären weniger intelligent als weiße Menschen. Wenn jemand so etwas systematisch verbreitet, gehört das nicht in soziale Medien. Angenommen, man sperrt so etwas nicht: Dann würde am Ende nicht der gesunde Menschenverstand obsiegen, sondern verloren gehen? Man kann nicht alles laufen lassen! Wenn jemand in deinem Freundeskreis jedes Mal beim Abendessen sagt, schwarze Menschen sind weniger intelligent als Weiße – dann lässt du das nicht laufen. Wenn jemand falsche Behauptungen systematisch in die Gesellschaft verbreitet, darf man das nicht laufen lassen. Zumal ein Posting ja auch nicht nur von Menschen ausgeht, sondern auch von einem Bot stammen kann, der zum Beispiel Lügen mit einer bestimmten politischen Agenda verbreitet. Wichtig ist dabei, dass die Richtlinien hierfür von Bürgerinnen und Bürgern und von der Politik gesetzt und kontrolliert werden. Das darf man nicht Konzernchefs oder Investmentbanken überlassen. Lass uns noch etwas genauer über Komm:on sprechen. Bei euch heißt es „Unser Journalismus ist kein Selbstzweck, sondern unser Beitrag zu einer notwendigen Organisierung für eine bessere Zukunft“ und weiterhin, dass ihr „parteiisch und aktivistisch“ seid. Da euer Impressum bei einer Abgeordneten von Die Linke angesiedelt ist: Ist das gemeint, mit „parteiisch“? Definitiv nicht. Da wir kein Büro haben, hat uns freundlicherweise eine befreundete Bundestagsabgeordnete diese Postadresse zur Verfügung gestellt. Komm:on ist parteipolitisch ein neutrales Medium, wir haben keine klassische politische Identität, sondern verstehen uns als ein Sender für engagierte Menschen, die die Welt verbessern wollen. Dabei gibt es drei Schwerpunkte: Reportagen und Berichte von Demonstrationen und Protestbewegungen, außerdem wollen wir ein Forum für Debatten sein, weshalb wir Talksendungen in unterschiedlichen Formaten organisieren. Und drittens tun wir alles dafür, damit Leute aktiv werden. Wir sind kein journalistisches Projekt – das ist mit „parteiisch“ gemeint – es ist nicht unser Ansporn, einfach nur neutral zu berichten, sondern wir haben ein Anliegen: Dass Leute auf die Straße gehen, dass sie sich organisieren und aktiv werden, gegen den ganzen kapitalistischen Wahnsinn da draußen. Deckt sich das aber nicht doch mit dem Parteiprogramm der Linken? Nein. In vielen Fragen gehen unsere Forderungen weiter. Unsere Zielgruppe sind jene „99 Prozent“, von denen vor zehn Jahren die Occupy Wall Street-Bewegung gesprochen hat. Wir machen uns stark für eine Politik, die im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung ist und dabei sind wir nicht parteipolitisch gebunden. Es kann sein, dass es Überschneidungen mit Teilen der Linken gibt, die gibt es aber genauso mit Politikern der Grünen. Uns geht es nicht um Parteipolitik, sondern um Engagement von unten. Du hast mal den Begriff „Mainstream-Medien“ benutzt – siehst du Komm:on dem entgegengesetzt? Mit „Mainstream-Medien“ habe ich Medien bezeichnet, die zu Konzernhäusern gehören oder zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wir sind dagegen ein alternatives Medium, wir arbeiten alle ehrenamtlich, wobei wir Spenden sammeln für die technische Umsetzung. Wir verstehen uns als Teil einer alternativen Gegenöffentlichkeit. Das Anliegen, dass eure Nutzer aktiv werden sollen, formulierte so ähnlich auch Ken Jebsen über Kenfm, bei uns im Interview. Deswegen war ich damals dort, weil wir Leute auf die Straße bringen wollten. Doch wofür Jebsen heute Leute auf die Straße bringt, ist leider ein bisschen von einem politischen Wahnsinn geprägt. Komm:on ist vor allem inspiriert von amerikanischen Plattformen, insbesondere „Democracy Now“ und „The Young Turks“, die einerseits das politische Geschehen analysieren und andererseits das Ziel haben, dass sich am Ende auch etwas bewegt. Wir sind politisch nicht beliebig, sondern engagieren uns für einen ökologischen Wandel, eine friedliche Weltordnung und für eine demokratische und gerechte Wirtschaftsordnung, die nicht Kapitalismus ist. Wir setzen uns ein für einen ökologischen, demokratischen, friedlichen Systemwechsel. Das ist auch nicht nur eine Laune, sondern das werden wir auch in 20 Jahren noch machen, unabhängig davon, wie viele Leute das gut oder schlecht finden. Wir sind davon überzeugt, dass es das Richtige ist. Wir sind auch nicht auf Klicks aus und haben uns anfangs auch geweigert, unsere Beiträge bei Youtube zu monetarisieren – auch wenn das bedeutete, dass wir dadurch eine geringere Reichweite hatten. Wir wollen mit unseren Inhalten nicht fördern, dass Leute zu Konsumenten werden. Du hast vorhin erwähnt, dass du auch mit Querdenkern im Dialog bleiben willst. Wird so ein Dialog mit konträren Meinungen auch auf Komm:on stattfinden? Wir haben zu Anfang von Corona auch mit einem Pandemie-Leugner eine Kontroverse geführt, der auch viel Zeit bekommen hat. Aber wir haben es danach nicht nochmal gemacht, das hätte nichts gebracht Ich habe Komm:on ja zusammen mit Marcus Staiger gegründet. Und wir beide diskutieren oft sehr kontrovers, was wir auch aufnehmen und im Kanal zeigen. Die Kontroversen, die es in der Gesellschaft oder auch in sozialen Bewegungen gibt, wollen wir vor der Kamera führen, wir wollen einen solidarischen Rahmen schaffen, in dem man solche Debatten führen kann. Denn die Spaltungen, die es in der Gesellschaft gibt – die teilweise auch OK sind – bekommen einen gewissen toxischen Charakter, wenn man miteinander gar nicht mehr spricht. Es gibt für mich Grenzen des Dialogs, aber diese Grenzen betreffen nicht die große Mehrheit der Bevölkerung. Natürlich muss man versuchen, die großen Streitpunkte, die man hat miteinander hat, auszudiskutieren. Auch wenn vielleicht irgendwann der Punkt kommt, wo man merkt, dass es einen nicht weiter bringt. Aber man muss es zumindest mal miteinander versuchen. Du kennst das politische Berlin aus nächster Nähe. Hattest du schon mal den Gedanken, selbst Politiker zu werden? Es gab mal eine Anfrage an mich von der Linken, Anfang der 2000er Jahre. Ich war damals Sprecher von Attac und sehr häufig in den Medien – und erhielt dann die Anfrage, ob ich nicht in den Bundestag will. Ich habe eine Nacht darüber geschlafen und mich dann dagegen entschieden. Ich bin nicht der Typ für so etwas. Ich habe Respekt vor Menschen, die das ehrenvoll machen, aber mein Leben ist das nicht, weil man doch sehr stark fremdbestimmt ist, wenn man in dieser Institution arbeitet. Ein Großteil deiner Arbeitszeit ist fremdbestimmt, du musst an allen möglichen Treffen und Ausschüssen teilnehmen, was du vielleicht gar nicht willst – ich persönlich kann das nicht, ich bin vom Charakter her ein Freelancer. Ist es auch die Überzeugung, dass du auf anderen Wegen deine Ziele eher erreichen kannst? Ich habe in den letzten Jahren Youtube-Klicks im Millionenbereich produziert, habe also sehr viel Erfahrung in diesem Bereich gesammelt und festgestellt, dass die linken und progressiveren Kräfte hier noch eine große Schwäche haben. Ich habe dazu auch durch meine iranischen Wurzeln einen besonderen Zugang, denn im Mittleren Osten werden soziale Medien ganz anders benutzt, das habe ich im Iran durch die Grüne Bewegung mitbekommen, ebenso durch den Arabischen Frühling. Insofern glaube ich, dass ich mit politischer Kommunikation im Netz und in sozialen Medien aktuell ein Lücke bearbeite, die unbedingt bearbeitet werden muss. Ich weiß nicht, ob ich mit einem Bundestagsmandat mehr erreichen würde – vielleicht Aber man muss auch das tun, was zu einem passt. Sonst läuft man Gefahr, unglücklich zu werden und als unglücklicher Mensch wird man kein guter politischer Akteur. Für mich wäre auch wichtig – sollte ich doch mal in die Politik gehen – in einer Partei zu sein, die in ihrer Form anti-systemischer ist: Also nicht wie die anderen Parteien, mit Vorsitzendem, Vorstand, Ausschuss usw, sondern ich würde gerne etwas Neueres probieren, eine Partei, die basisdemokratischer ist und direktdemokratischer funktioniert. Du bist – oder warst zumindest – Mitglied der „Interventionistischen Linken“, die vom Verfassungsschutz als linksradikal eingestuft wird. Siehst du dich selbst als linksradikal? Ich tue mich schwer damit, mich zu definieren, denn das Chaos in der Linken, über das wir gesprochen haben, betrifft auch alle Kategorien und Begriffe. Manche Leute sagen, ich sei ein „populistischer Lifestyle-Linker“. Ich war 2006 im Gründerkreis der Interventionistischen Linken, im Prozess der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Damals ging es darum, die radikaleren Linken so zusammenzubringen, dass sie auch mal mit anderen zusammenarbeiten, also nicht nur vermummt auf Demos rumhüpfen, sondern sich öffnen. Wenn man sich eng entlang der theoretischen Begriffe orientiert, würde ich mich schon als linksradikal bezeichnen. auch heute noch? Ja, wobei ich radikal wie in der lateinischen Etymologie verstehe, im Sinne von: An die Wurzeln gehen. Ich bin kein Linker, der sagt wir machen jetzt zwei, drei Gesetze anders und dann wird’s schon laufen – sondern ich finde, dass die Gesellschaft, vor allem was die wirtschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnisse betrifft, grundlegend, also von der Wurzel aus, geändert werden muss. In dem Sinne bin ich radikal. Ich will nicht nur ein bisschen mehr Sozialpolitik, sondern ich möchte verhindern, dass 20 Leute so viel besitzen wie die Hälfte der Menschheit. Noam Chomsky hat gesagt: Echte Demokratie ist dann, wenn die großen Investitionen demokratisch kontrolliert werden. Das ist eine ziemlich radikale Haltung. Sind denn auch deine Mittel radikal? Mit 15 warst du im Schwarzen Block, welches Verhältnis hast du heute zu Militanz und Gewalt? Das hat sich bei mir sehr verändert. Wenn es gegen Nazis geht, finde ich schon, dass man man auch mal militant werden kann, wenn man sich auch verteidigen muss. Aber ansonsten finde ich Gewalt als politisches Mittel nicht OK in Deutschland. Ich benutze es nicht, vertrete es nicht und ich beteilige mich nicht an Bewegungen, die Gewalt einsetzen. Weil man damit nichts gewinnt, man verliert nur. Genauso finde ich es nicht OK, einfach gegen jeden Polizisten zu sein, viele Polizisten sind überhaupt nicht meine Gegner, sondern es sind genauso Leute, wo ich mir wünsche, dass es ihnen besser geht. Dieses vereinfachte Schema, Polizei ist der Feind, das ist nicht mehr meins. Ich will eine Politik, die 90 Prozent der Menschen mitnimmt, weil es im Interesse von 95 Prozent der Bevölkerung ist. Mit Gewalt verliert man, aber womit gewinnt man? Ich befürworte insbesondere die Kultur des zivilen Ungehorsams. Diese Aktionsform funktioniert meiner Beobachtung nach sehr gut, das habe ich vor allem von der Anti-Globalisierungs-Bewegung gelernt, zum Beispiel von italienischen AktivistInnen, aber auch von den Protesten im Wendland gegen Castor-Transporte. Wir haben in Heiligendamm im großen Ausmaß zivilen Ungehorsam praktiziert, mit den Blockaden des G8-Gipfels, genauso auch bei Blockaden von Nazi-Parteitagen, bei Ende Gelände und den Blockaden von Kohlekraftwerken oder auch vor drei Jahren bei Blockaden der amerikanischen Militärbasis in Ramstein. Sind demnach Straßenblockaden wie die von Extinction Rebellion (ER) in deinem Sinne? Ja, ER finde ich großartig – bis auf ein paar dumme Aussagen des englischen Chefs, die ihnen in Deutschland auch sehr geschadet haben. Ich finde die Aktionsform von ER toll, mir gefällt auch ihre dezentrale Organisationsform. Sie sagen: Das hier ist unsere 10-Punkte-Charta, wenn du das genauso so siehst, bist du Teil von Extinction Rebellion und kannst auch in unserem Namen sprechen. Das finde ich sehr innovativ und basisdemokratisch. Eine Aktionsform, die von rechten aber auch von linken Aktivisten praktiziert wird, ist das Doxing, sprich die Veröffentlichung personenbezogener Daten. Wie stehst du dazu? Dazu kann ich keine allgemeingültige Aussage treffen. Ich würde zumindest sagen: Wenn es um harte Neonazis geht, möchte ich wissen, wenn sie in meiner Nachbarschaft wohnen. Nicht, um einen Anschlag zu verüben, sondern um Protest zu organisieren. Ich will nicht, dass ein Nazi in der Nähe wohnt, dort seine Kameraden empfängt und irgendwelche Dinge plant. Indymedia hat zum Beispiel 2016 Daten von zahlreichen AfD-Mitgliedern ins Netz gestellt, inklusive Privatadressen So etwas meine ich nicht. Ich beziehe mich auf harte Neonazis, die Teil von rechtsextremen Netzwerken sind, denn die gehören aus der Nachbarschaft rausgedrängt. Wir sprachen vorhin über Anselm Lenz, dessen Wohnadresse mittlerweile ebenfalls von Indymedia öffentlich gemacht wurde. Verurteilst du das Doxing an dieser Stelle, oder befürwortest du diesen Schritt? Ich würde so etwas nicht machen. Lenz ist mein politischer Gegner, aber erstens nicht so wichtig, und zweitens ist er kein Nazi, auch wenn er punktuell mit Rechtextremisten kooperiert hat. Philipp Ruch vom „Zentrum für politische Schönheit“ sagte uns kürzlich im Interview, Demonstrationen seien eine „sehr veraltete Protestform, die politisch gar nichts mehr bringt.“ Du würdest ihm vermutlich widersprechen Also, unabhängig davon, was man jetzt performativ gut oder schlecht findet: Empirisch betrachtet ist diese Aussage von ihm falsch. Wenn man sich die Geschichte von sozialen Bewegungen anschaut, sind Demonstrationen ein wichtiges und mitentscheidendes Instrument von Bewegungsmobilisierung gewesen. Das sind sie bis heute, das kann man an unzähligen Beispielen nachvollziehen. Es gibt keine soziale Bewegung, die sich nicht über Großdemonstrationen manifestiert hat, eine Großdemonstration ist Ausdruck einer starken Protestbewegung und Ausdruck einer starken Stimmung in der Gesellschaft für diese Bewegung. Das ist seit 200 Jahren so und hat sich bis heute nicht verändert. Wie eingangs erwähnt schreibe ich meine Doktorarbeit über soziale Bewegungen, insofern könnte ich hierzu sehr viele empirische Belege liefern. Zum Schluss: Wie fällt denn deine persönliche Bilanz aus: Welche Anliegen und Ziele, die du auf Demos vertreten bzw. formuliert hast, wurden tatsächlich erreicht? Wenn ich mir die Gesellschaft in den letzten 30 Jahren anschaue, stelle ich fest, dass sich vieles zum Positiven entwickelt hat – aber auch zum Negativen. Ich war Anfang der 90er auf Demos zu Rassismus und Asylrecht. Damals waren wir Ausländer in Deutschland und haben uns gefragt, wie lange wir noch hier bleiben dürfen. Heute leben wir in einer relativ etablierten multikulturellen Gesellschaft, in der sich auch die Vorstellung von dem, was „deutsch“ ist, sehr verändert hat. Diese Veränderung hat natürlich mit den vielen politischen Bewegungen und mit antirassistischem Engagement der vergangenen Jahrzehnte zu tun. Ich bin in Köln auf einem der ersten großen Christopher Street Days gelaufen, Ende der 80er Jahre. Wenn ich mir im Vergleich dazu anschaue, wie Homosexualität heute in Deutschland normalisiert ist, würde ich sagen, dass sich auch da viel zum Positiven verändert hat und die Diskriminierung weniger geworden ist. Auch das ökologische Bewusstsein ist heute ein ganz anderes als noch vor 20 Jahren, da hat die Umweltbewegung unglaublich viel erreicht. Wenn es jedoch um die kapitalistische Macht geht, da hat sich leider kaum etwas zum Besseren verändert. Das ist allerdings auch ein Kampf, den man nicht mal so eben auf die Schnelle gewinnt. Sondern das ist eine Aufgabe von Jahrzehnten und Generationen, bis man den Kapitalismus wirklich abschaffen kann. [Das Interview entstand im April und Oktober 2021]
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